João Vale de Almeida : The Divorce of Nations. A Diplomats Inside View as the Global Order Collapses, Cheltenham: The History Press 2025, 264 S., ISBN 978-1-8039-9767-4, GBP 18,99
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Diplomaten-Memoiren sind als Quelle für Historiker eher selten ergiebig, wenn sie unmittelbar nach dem Ausscheiden der Autoren aus dem aktiven Dienst erscheinen und die politisch Verantwortlichen in der Öffentlichkeit noch präsent sind oder eigene Erinnerungen noch nicht veröffentlicht haben. So verhält es sich auch mit dem Buch von João Vale de Almeida, der seinem portugiesischen Landsmann José Manuel Barroso während dessen erster Amtszeit als Präsident der Europäischen Kommission von 2004 bis 2009 als Kabinettschef in Brüssel diente und anschließend als EU-Topdiplomat in Washington, New York und, nach dem Brexit, in London auf Posten war. Der Wert des Buchs besteht vielmehr darin, dass sich sein Autor an einer politischen Geschichte des ersten Viertels des 21. Jahrhunderts versucht, dabei durchaus Orientierung und Interpretation zu geben vermag, die künftiger Zeitgeschichtsschreibung als Wegweiser dienen dürfte - nicht zuletzt aufgrund seiner europäisch-atlantischen Perspektive.
Eckpunkte der Betrachtungen Vale de Almeidas sind der Terrorangriff auf die USA vom 11. September 2001 und der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, der am 24. Februar 2022 begonnen hat. Seither habe sich die Welt zum Schlechten verändert. Habe man zuvor noch über das vermeintliche Ende der Geschichte diskutiert, müsse man sich heute fragen, ob man es mit ihrer Rache zu tun habe. Eine Ursache hierfür sieht er in Wladimir Putin, der seit 2000 durchgehend die Macht in Russland in seinen Händen hält. Vale de Almeida erinnert sich, dass Putin schon bei einer Begegnung mit Barroso im März 2006 sein Gefühl der Demütigung und seinen Wunsch, die Dinge grundsätzlich zu verändern, nicht verheimlicht habe. Er habe sich viel mehr von der Vergangenheit besessen gezeigt als an der Zukunft interessiert. Gleichwohl sei damals nur die Europäische Union (EU) Putin ein Dorn im Auge gewesen. Die North Atlantic Treaty Organization (NATO) sei erst 2007 in seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz dazu gekommen. Mit dem Kaukasuskrieg 2008 hätte der Westen sehen müssen, dass ein Bruch mit Russland unvermeidlich sei, resümiert Vale de Almeida.
Der Westen sei damals jedoch zu sehr mit dem Management der amerikanischen Subprime-Krise beschäftigt gewesen, die sich nach dem Zusammenbruch der Großbank Lehman Brothers rasch zur Weltfinanzkrise ausweitete und in Europa in die Euro-Krise mündete. Vale de Almeida nimmt seine Leser mit zum Treffen nach Camp David vom 18. Oktober 2008, damals noch mit US-Präsident George W. Bush und dem "hyperaktiven" französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy als EU-Ratspräsident. Auch wenn am Ende die Krisenbewältigung gelang, wurden Globalisierungskritik und Populismus hoffähig. Außerdem ging der globale Süden stärker auf Distanz zum Westen und der von ihm geprägten multilateralen Ordnung. Ökonomische, soziale, geographische, demografische und kulturelle Gegensätze hätten in der Folge weiter zugenommen - verstärkt durch den Rückzug der USA aus ihrer globalen Führungsrolle unter den Präsidenten Obama und Trump, den Aufstieg Chinas sowie aufgrund der vielfältigen Erfahrung von Hilflosigkeit während der Covid-Pandemie. Isolationismus bezeichnet Vale de Almeida in diesem Kontext als eine problematische Konstante der amerikanischen politischen Kultur. Durchbrochen werde er phasenweise durch eine vorrübergehende Dominanz des Exzeptionalismus, der bis hin zum Interventionismus reichen könne. Eine solche Phase habe es nach 11. September 2001 gegeben. Sie habe sich, besonders augenfällig mit Blick auf den Irak-Krieg, als verhängnisvoll erwiesen.
Für die Geschicke Europas hält Vale de Almeida Tony Blair, Angela Merkel und Emmanuel Macron für die entscheidenden Protagonisten. Blair habe sich als Pro-Europäer insbesondere um die EU-Erweiterung 2004 verdient gemacht. Auch habe die britische Ratspräsidentschaft direkt nach den gescheiterten Referenden über die EU-Verfassung in den Niederlanden und Frankreich 2005 wichtige Impulse gesetzt. Unvergesslich ist Vale de Almeida ein Rededuell zwischen Tony Blair und Nigel Farage im Europäischen Parlament, das der Premier souverän für sich und die europäische Sache entschied. Gleichwohl sei Blair mehr Intuitionspolitiker als Stratege gewesen und habe so auch schwerwiegende Fehlentscheidungen getroffen zum Beispiel zum Irakkrieg. Merkel wurde von Vale de Almeida in den Sitzungen des Europäischen Rates stets aufmerksam beobachtet. Er beschreibt sie wertschätzend als ergebnisorientiert, umgänglich und verlässlich. Sie sei eine meisterhafte Taktikerin und Verhandlerin gewesen. Es habe eine Methode Merkel gegeben, jedoch keine Vision. In der Eurokrise habe sie sich zu lange einer Lösung verweigert. Der einseitige deutsche Ausstieg aus der Atomenergie und die übergroßen Abhängigkeiten von Russland und China kritisiert er aus europäischer Perspektive ebenfalls. Mit Visionen und Innovationskraft habe sich dagegen Macron schnell ins Rampenlicht der EU-Bühne gebracht und wichtige Debatten angestoßen. Sein Bild in der Geschichte werde davon abhängen, wer ihm nachfolge, mutmaßt Vale de Almeida.
Der Brexit und seine Folgen werden, nicht überraschend angesichts des letzten Postens des Autors, sehr breit beschrieben. Am instruktivsten sind dabei die Ursachen-Analyse sowie die Porträts von Boris Johnson und Liz Truss.
Das Buch ist flüssig geschrieben, hat kurze Kapitel und verzichtet auf eine streng chronologische Gliederung. Redundanzen sind die Kehrseite. Nicht überzeugend ist der Titel des Buches: Das Bild der Scheidung, wenngleich oft in der Diskussion um den Brexit benutzt, wird zu simplizistisch auf das gesamte Staatensystem übertragen. Möglicherweise handelt es sich hier um eine Konzession an den britischen Verlag und sein Publikum. Vom Kollaps der globalen Ordnung zu sprechen, wie es der Untertitel tut, ist auch allzu reißerisch. Der Autor selbst benutzt in seinem Text Begrifflichkeiten wie Fragmentierung, Polarisierung und Plurilateralismus, um das Ausmaß der Krise des Multilateralismus zu beschreiben. Vom Zusammenbruch spricht er indes nicht.
Bedauerlich ist weiterhin, dass wichtige institutionelle Entwicklungen, die mit dem Lissabonner Vertrag von 2007 für die EU einhergingen und die Vale de Almeida entweder mitgestaltet oder in ihren Folgen erlebt hat, wie zum Beispiel die Gründung des Europäischen Auswärtigen Dienstes weitgehend unerwähnt bleiben. Sie vertiefend darzustellen und zu analysieren, bleibt einer noch zu schreibenden Geschichte der EU und ihrer Außenpolitik vorbehalten. Es ist zu wünschen, dass Vale de Almeida zu diesem Zweck das in seinen Memoiren nicht preisgegebene Wissen noch verfügbar machen wird.
Volker Erhard