Rezension über:

Raimondo Tocci (ed.): A Companion to Byzantine Chronicles (= Brill's Companions to the Byzantine World; Vol. 14), Leiden / Boston: Brill 2025, XII + 575 S., ISBN 978-90-04-43234-5, EUR 270,71
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Rezension von:
Spyridon P. Panagopoulos
Patras
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Spyridon P. Panagopoulos: Rezension von: Raimondo Tocci (ed.): A Companion to Byzantine Chronicles, Leiden / Boston: Brill 2025, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 12 [15.12.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/12/40602.html


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Raimondo Tocci (ed.): A Companion to Byzantine Chronicles

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Der von R. Tocci herausgegebene Band A Companion to Byzantine Chronicles stellt einen bedeutsamen, breit angelegten und methodisch ambitionierten Beitrag zu einem zentralen Feld der Byzantinistik dar. Die byzantinische Chronistik, eine Gattung, die lange Zeit zwar als unverzichtbares historisches Quellenmaterial anerkannt war, aber in ihrer literarischen und ideologischen Komplexität oft unterschätzt wurde, hat in den letzten Jahrzehnten eine bemerkenswerte Wiederentdeckung erfahren. In diesem Kontext positioniert sich der vorliegende Companion als ein Werk, das nicht nur den aktuellen Forschungsstand zusammenführt, sondern auch neue Wege weist, die vielfältigen Textwelten der Chroniken zu erschließen. Schon durch die Wahl der Autorinnen und Autoren, die offensichtlich verschiedene disziplinäre Hintergründe mitbringen, wird deutlich, dass der Band den Anspruch verfolgt, die Chronistik nicht eindimensional als Sammlung historischer Fakten zu betrachten, sondern als ein kulturelles, literarisches und politisches Phänomen, das wesentliche Einblicke in das Selbstverständnis der byzantinischen Gesellschaft erlaubt.

Die Bedeutung eines solchen Werkes ergibt sich nicht zuletzt aus der Natur der Quellen selbst. Byzantinische Chroniken sind so unterschiedlich wie ihre Entstehungsperioden: Sie reichen von frühbyzantinischen Weltchroniken, die universalhistorische Perspektiven entwickeln, bis zu spätbyzantinischen Chroniken, die spezifische politische Konstellationen reflektieren. Ein Companion, der sich dieser Vielfalt widmet, steht vor der Herausforderung, sowohl einen systematischen Überblick als auch eine differenzierte Analytik zu bieten. Die Struktur des Bandes lässt erkennen, dass Tocci auf einen bewussten Ausgleich zwischen Einführungswissen und vertiefender Forschung aus war, und dieser Anspruch prägt den Gesamteindruck des Werkes.

Ein zentrales Verdienst des Bandes besteht in der interdisziplinären Ausrichtung. Traditionalistische Ansätze der Chronistikforschung betrachteten die Texte primär als historische Dokumente, deren Wert vor allem in der Faktensicherung lag. Moderne Ansätze hingegen, und der Companion trägt dieser Entwicklung Rechnung, erkennen zunehmend den literarischen Charakter der Chroniken. Sie sind nicht bloß Protokolle der Vergangenheit, sondern narrative Konstruktionen mit spezifischen rhetorischen Strategien, ideologischen Botschaften und ästhetischen Eigenheiten. Die Beiträge des Bandes, die sich sowohl narratologischer als auch philologischer, kulturhistorischer und sozialgeschichtlicher Methoden bedienen, zeigen, wie fruchtbar die Kombination dieser Perspektiven sein kann. Indem die Chroniken als literarische Artefakte ernst genommen werden, offenbaren sich Bedeutungen und Intentionen, die aus rein historischer Sicht verborgen geblieben wären.

Ein weiterer wesentlicher Aspekt des Bandes besteht in der gründlichen Kontextualisierung der Texte. Die byzantinische Chronistik ist untrennbar mit den politischen und sozialen Strukturen des Reiches verbunden. Viele Chronisten waren eng mit dem Hof, mit klösterlichen Netzwerken oder mit den intellektuellen Kreisen der Hauptstadt verbunden, und ihre Werke spiegeln diese Bindungen wider. Der Companion arbeitet diese Zusammenhänge sorgfältig heraus, indem er die sozialen Funktionen der Chronistik, ihre Verwendungszusammenhänge und ihre symbolischen Botschaften in den Vordergrund stellt. Dadurch erhält der Leser ein tieferes Verständnis dafür, wie Chroniken zur Legitimation politischer Entscheidungen dienten, wie sie Macht und Autorität konstruierten und wie sie kollektive Erinnerung formten. Die Textproduktion wird nicht als isolierte literarische Tätigkeit dargestellt, sondern als ein Akt kultureller Gestaltung, der in die komplexen Kommunikationsprozesse des Byzantinischen Reiches eingebettet war.

Besonders hervorzuheben ist die Art und Weise, wie der Band mit der Überlieferungsgeschichte der Chroniken umgeht. Da der größte Teil der byzantinischen Literatur durch Handschriften überliefert ist, deren Entstehungs- und Kopiergeschichte oft Jahrhunderte umfasst, ist eine gründliche Kenntnis der Handschriftkunde unabdingbar. Der Companion geht hier klar über eine reine Darstellung der Textüberlieferung hinaus und integriert Ansätze der Material Philology, die die Handschrift nicht nur als Träger des Textes, sondern als historisches Objekt mit eigener Bedeutung betrachtet. Diese Perspektive ist für die Bewertung der Chroniken von großer Relevanz, da viele textliche Varianten, Ergänzungen oder Kürzungen Rückschlüsse auf die Rezeption, den Gebrauch und die ideologische Umdeutung der Texte im Laufe der Jahrhunderte erlauben.

Auch in der inhaltlichen Tiefe überzeugt das Werk durch thematische Vielfalt. Die byzantinische Chronistik ist reich an Motiven, die weit über die reine Geschichtsschreibung hinausgehen. Dazu gehört die Darstellung des Kaisertums, die Deutung göttlichen Handelns, die Verarbeitung innerer und äußerer Bedrohungen, die Konstruktion von Identität und Alterität sowie die Einbettung der eigenen Geschichte in größere universalhistorische Zusammenhänge. Der Companion behandelt diese Themen nicht isoliert, sondern im Zusammenhang, was die Komplexität der Textproduktion sichtbar macht. Die Chronisten waren sich ihrer Wirkung bewusst, und ihre Werke dienten nicht nur der Dokumentation, sondern auch der moralischen Belehrung, der Propaganda oder der kulturellen Selbstvergewisserung. Die Beiträge des Bandes illustrieren dies anhand konkreter Beispiele und schaffen so ein lebendiges Bild der Gattung.

Trotz der überwiegend positiven Bewertung bleiben einige Grenzen und Herausforderungen, die bei einem Sammelband dieses Umfangs kaum zu vermeiden sind. Die Heterogenität der Beiträge führt zu einem uneinheitlichen Gesamteindruck. Unterschiedliche methodische Vorlieben, Schreibstile und Gewichtungen einzelner Aspekte lassen sich in einem interdisziplinären Werk kaum vollständig harmonisieren. Darüber hinaus ist es unvermeidlich, dass manche Themen oder Autoren weniger ausführlich behandelt werden als andere. Angesichts der Breite der byzantinischen Chronistik, die vom 6. bis ins 15. Jahrhundert reicht, wäre eine vollständige Abdeckung ohnehin kaum zu leisten.

Insgesamt prägt den Band ein ausgeprägtes Bewusstsein für die Vielschichtigkeit der Chroniken, die weder ausschließlich als historiografische Texte noch als reine Literaturwerke verstanden werden. Der Companion vermittelt diese Komplexität überzeugend und trägt damit wesentlich dazu bei, die Bedeutung der byzantinischen Chronistik für ein umfassenderes Verständnis der spätantiken und mittelalterlichen Welt sichtbar zu machen. Indem er unterschiedliche Perspektiven zusammenführt und neue Fragestellungen anregt, stellt er einen bleibenden Beitrag zu einem Forschungsfeld dar, das trotz vieler Fortschritte weiterhin reich an offenen Fragen und Interpretationsmöglichkeiten ist.

Spyridon P. Panagopoulos