Klassik Stiftung Weimar (Hg.): Dichterzimmer (= Im Fokus), Berlin: Deutscher Kunstverlag 2025, 119 S., 80 Farbabb., ISBN 978-3-422-80228-5, EUR 14,90
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"Wer heute durch die Dichterzimmer streift, sich in der Fülle an Farben und Ornamenten verliert und vielleicht nicht so recht erkennt, welches Werk wo dargestellt ist, mag sich damit trösten, dass schon die Zeitgenossen Papptafeln mit Erklärungen zu Hilfe nahmen" (7). Mit diesem sympathisch selbstironischen Satz holt der Band "Dichterzimmer" seine Leserinnen und Leser dort ab, wo viele Weimarbesucherinnen und -besucher stehen dürften: staunend inmitten einer überwältigenden Bilderfülle, dankbar für jede Form der Orientierung. Die Frage ist nur, ob der Band selbst eher als besonders schön gestaltete Papptafel fungiert oder ob er über das Format eines Führers hinaus kunsthistorische Deutungsspielräume öffnet.
Herausgegeben von der Klassik Stiftung Weimar, führt der Band in mehreren kompakten Beiträgen in Entstehung, Ausstattung und Restaurierung der Dichterzimmer im Westflügel des Residenzschlosses ein. Die Texte spannen einen Bogen von der Bau- und Nutzungsgeschichte des Westflügels über die Rolle der Großherzogin Maria Pawlowna und der beteiligten Künstler bis hin zu ausführlichen Beschreibungen der Bildprogramme und einer Darstellung der jüngsten Restaurierung. Einleitende Überblickskapitel, thematisch gebündelte Aufsätze sowie sogenannte "Spotlights" am Ende ordnen das Ensemble in den Kontext der Weimarer Klassik, des höfischen Repräsentationsbedürfnisses und der aktuellen Museumsarbeit ein. Zahlreiche, meist farbige Abbildungen begleiten die Beiträge.
Besonders überzeugend ist der Band dort, wo in ihm die Dichterzimmer nicht nur als eindrucksvolle Raumschöpfungen, sondern als Teil einer größeren Gedächtnislandschaft beschrieben werden. Der Beitrag zum Westflügel (40) vergleicht das Weimarer Ensemble mit anderen Memorial- und Repräsentationsräumen des 19. Jahrhunderts, etwa den Nibelungensälen der Münchner Residenz oder dem Großherzoglichen Museum als erstem Museumszweckbau in Weimar. Hier blitzt auf, wie fruchtbar ein Blick auf die Dichterzimmer als frühem Protomuseum sein kann: als Gedenkarchitektur im Schloss, die den klassischen Kanon museal rahmt und zugleich in höfischer Nähe belässt. An solchen Stellen deutet der Band an, wie sich die Räume nicht nur historisch, sondern als Teil einer langen Ausstellungsgeschichte lesen ließen.
In weiten Teilen dominiert allerdings ein eher deskriptiver Zugriff. Biographische Kapitel zu den beteiligten Architekten und Malern verfolgen vor allem Lebensdaten und Karriereverläufe und wirken mitunter wie verkürzte Nachschlagewerksartikel (46, 48). Gerade bei einer Schlüsselfigur wie Johann Christian Neher hätte man sich gewünscht, seine Bedeutung für das Projekt der Dichterzimmer stärker zuzuspitzen, anstatt sein Leben noch einmal chronologisch nachgezeichnet zu sehen. Ähnlich verfahren die ikonographischen Abschnitte: Die Bildprogramme werden sorgfältig nacherzählt und formal aufgegliedert (62, 92). Das ist ausgesprochen nützlich, wenn man mit dem Buch in der Hand im Raum steht und die Wände "lesen" möchte; als alleinige Lektüre gerät diese Aneinanderreihung von Szenen und Allegorien jedoch stellenweise etwas trocken.
Hinzu kommt, dass Text und Abbildungen nicht durchgängig so eng verzahnt sind, wie man es sich wünschen würde. Die Seiten mit historischen Fotografien (102, 104) sind zweifellos reizvoll, doch bleibt häufig unklar, weshalb gerade diese Aufnahmen von 1867 oder 1910 ausgewählt wurden und welche konkreten Beobachtungen sich daran knüpfen lassen könnten. Mehrfach werden Grundrisse und historische Ansichten so klein reproduziert, dass wesentliche Details kaum zu erkennen sind (100, 101). Wo die Texte von Eingriffen, Verschiebungen oder neuen Hängungen berichten, wäre eine gezielte Auswahl größerer Bildausschnitte hilfreich gewesen. Gleichzeitig zeigt der Band eindrucksvolle aktuelle Fotografien der Räume, die die räumliche Wirkung, die Lichtstimmungen und die Farbpracht hervorragend vermitteln. Man hätte diesen visuellen Reiz gern noch stärker mit den analytischen Passagen verschränkt gesehen.
Besonders gelungen ist der Band immer dann, wenn er den Architekten Schinkel, den Maler Neher und die Auftraggeberin Maria Pawlowna gemeinsam in den Blick nimmt (50). Pawlowna tritt als zentrale Figur hervor, ohne dass die Bildprogramme zu einem panegyrischen Herrscherlob gerieten. Im Gegenteil: Wie schon Christian Hecht beobachtet hat, verzichten die Programme auffallend auf direkte Huldigungen und stellen das Werk der Dichter ins Zentrum.[1] Im Schillerzimmer konzentriert sich die Ausstattung auf mittelalterliche Stoffe; Hecht spricht von einer "überwältigenden" Themenfülle, die eine genaue Kenntnis der dargestellten Texte voraussetze, obwohl manche erst wenige Jahrzehnte alt waren. In dieser Perspektive erscheinen die Dichterzimmer als anspruchsvolle Projektionsfläche eines bürgerlichen Klassikerbildes im höfischen Rahmen. Der Band nimmt diese Einsichten gewissermaßen im Hintergrund auf, indem er Entstehung und Ausstattung detailreich darstellt, entwickelt sie aber nur selten weiter.
Am deutlichsten wird diese Zurückhaltung dort, wo es um die heutige Rezeption und um Fragen der Denkmalpflege geht. Die Restaurierungsgeschichte wird gut verständlich erzählt, und der Band macht keinen Hehl daraus, dass es dabei auch um die Legitimation umfangreicher Maßnahmen und Spenden geht (114). Leitend ist die Maxime größtmöglicher Originaltreue (106). Was dies für den Umgang mit Patina, Übermalungen und gewachsenen Zuständen bedeutet, bleibt jedoch eher unterbelichtet. Begriffe wie "Handlungsbild" (92) oder die im Überblick aufgeworfene Frage nach der Bedeutung der Dichterzimmer als Gedenkstätte in einer veränderten Erinnerungskultur hätten eine Vertiefung verdient. Das "Spotlight" am Schluss (108) fasst vieles noch einmal zusammen, ohne aber neue Deutungen zu wagen oder quer zu den Fachbeiträgen überraschende Lektüren anzubieten.
Dass der Band sich insgesamt eher an ein breiteres, an der Besichtigung interessiertes Publikum richtet, muss jedoch nicht als Schwäche gelesen werden. Die einleitende Übersicht macht die komplexe Stofffülle der Räume auf wenigen Seiten zugänglich, die Rezeption wird an manchen Stellen anschaulich und mit Sinn für heutige Besuchererfahrungen beschrieben (65), und die reiche Bebilderung erlaubt einen Blick auf Details, die im realen Rundgang leicht übersehen werden. In diesem Sinne erfüllt "Dichterzimmer" die im eigenen Vorwort formulierte Funktion: Die Leserinnen und Leser sollen gewappnet sein für jene Fülle, die sie im Schloss erwartet, und zugleich das beruhigende Wissen im Rücken haben, nicht die ersten zu sein, die sich von ihr überfordert fühlen.
Im Vergleich zu der grundlegenden Studie von Christian Hecht, der die Dichterzimmer als Teil einer höfisch-bürgerlichen Klassikerinszenierung analysiert und dabei die Wahrnehmung der Räume selbst ins Zentrum rückt, bleibt der neue Band in seinen kunsthistorischen Ambitionen jedoch bewusst maßvoll.[1] Wer nach einer vertieften Einordnung in die Geschichte höfischer Memorialräume, nach einer systematischen Diskussion der Raumwirkung oder nach einer kritisch reflektierten Rezeptionsgeschichte fragt, wird weiterhin zur Spezialliteratur greifen. Als sorgfältig gestalteter, gut lesbarer und in vielen Teilen instruktiver Begleiter durch die Räume leistet "Dichterzimmer" dagegen einiges. Vielleicht ist genau dies sein heimlicher Clou: Das Buch ersetzt die Papptafeln der Zeitgenossen durch ein heutiges Pendant auf höherem Niveau - und lässt doch die Erfahrung bestehen, dass die Dichterzimmer mehr verlangen, als ein gedruckter Führer je ganz einlösen kann.
Anmerkung:
[1] Christian Hecht: "Klassiker-Inszenierung im höfischen Kontext. Die Dichterzimmer im Weimarer Schloss", in: Literatur ausstellen, hg. von Hellmut Thomas Seemann, Weimar 2012.
Elias Neuhaus