Rezension über:

Francesca Berry: Édouard Vuillard, the Nabis, and the Politics of Domesticity (= Material Culture of Art and Design), London: Bloomsbury 2024, XX + 285 S., 8 Farb-, 76 s/w-Abb., ISBN 978-1-350-18673-6, GBP 90,00
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Rezension von:
Katrin Pirner
Institut für Kunstgeschichte, Universität Wien
Redaktionelle Betreuung:
Thomas Moser
Empfohlene Zitierweise:
Katrin Pirner: Rezension von: Francesca Berry: Édouard Vuillard, the Nabis, and the Politics of Domesticity, London: Bloomsbury 2024, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 12 [15.12.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/12/40350.html


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Francesca Berry: Édouard Vuillard, the Nabis, and the Politics of Domesticity

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Francesca Berrys dringend notwendige feministische Perspektive auf die frühe künstlerische Praxis Édouard Vuillards (1868-1940) legt die enge materielle und diskursive Verschränkung seiner Malereien, Grafiken und Fotografien mit der häuslichen Sphäre offen. [1] Um die im Titel angekündigten "Politiken der Häuslichkeit" herauszuarbeiten, unternimmt die Autorin eine umfangreiche Kontextualisierung der künstlerischen Produktionsbedingungen innerhalb der Geschlechtergeschichte, der Biopolitik, der Arbeitsgeschichte und der historischen feministischen Bewegungen während der Dritten Französischen Republik. Dadurch gelingt es ihr, die Spezifika von Vuillards familiärer Situation und der Wohnverhältnisse in einem Spannungsverhältnis zur spätbürgerlichen Gesellschaftsordnung zu fassen und fruchtbare Interpretationsansätze für mehrere Werkgruppen des Frühwerks zu schaffen. Die Aufnahme der Nabis in den Buchtitel ist etwas irreführend, insofern es sich klar um eine Monografie zu Vuillard handelt, in der nur begrenzt sein Verhältnis - vor allem seine Differenz - zu der damit bezeichneten Künstlergruppe thematisiert wird.

Die in der Forschung lange etablierte, hartnäckig formalistische Lesart von Vuillards frühen, meist kleinformatigen Malereien als dekorative Oberflächen, gegen die sich die Autorin deutlich positioniert, verfolgt sie im ersten Kapitel zurück zu den Reaktionen der Kunstkritik aus dem Milieu des Symbolismus. Beispielsweise betonte ein enger Verbündeter Vuillards, Thadée Natanson, die formalen Innovationen und erachtete die häuslichen Sujets sowie die Konzentration auf weiblich gelesene Figuren für diese als besonders geeignet, weil er sie thematisch als unbedeutend einstufte. Die aufschlussreiche Analyse der frühen Rezeption zeigt aber, dass diese Ignoranz gegenüber den Darstellungsinhalten nicht alternativlos war: Berry macht einen Strang der Kunstkritik aus, der bemüht war formale und inhaltliche Aspekte zusammenführen, und für Vuillards Verhandlung von Häuslichkeit Ambiguität sowie eine Mischung aus Melancholie und Komik als spezifische Qualitäten konstatiert. An diesem zieht sie weiter.

Das erste Kapitel dient außerdem dazu, verschiedene politische Dimensionen der häuslichen Sphäre und ihr Verhältnis zu Konstruktionen von Weiblichkeit zu skizzieren, um die deutlichen Differenzen innerhalb der Nabis hinsichtlich dieses gemeinsamen Themas aufzuzeigen. Als positive Referenzfigur führt Berry hingegen Mary Cassatt ein.

Zusammen mit der Einleitung bildet das erste Kapitel die Grundlage für die restlichen vier, die rund um Werkgruppen und Themenkomplexe organisiert sind. Berry führt uns durch die Wohnung(en) des matriarchal geführten Haushalts der Familie Vuillard und verortet die künstlerische Praxis Edouards darin. Schwester, Mutter und Großmutter dienen ihm bekanntermaßen als immer wiederkehrende Motive - Berry zeigt jedoch viel mehr, dass es sich um eine bewusste und kontinuierliche Auseinandersetzung mit seinen Mitbewohnerinnen sowohl auf persönlichen als auch diskursiven Ebenen handelte, die eng mit virulenten sozialen und politischen Fragen verknüpft war.

Dazu arbeitet sie im zweiten Kapitel zunächst die Bedeutung der Einrichtung eines Ateliers in seinem Schlafzimmer heraus, das einerseits teils Form und Materialität der darin entstehenden Arbeiten determinierte und andererseits seine Praxis in die engen kleinbürgerlichen Räumlichkeiten einbettete. Dass das eigene Schlafzimmer dabei jedoch unsichtbar blieb, während er seine Mutter und Schwester schlafend malte, diskutiert Berry im Kontext der gegenderten Raumordnung der bürgerlichen Ideologie: einerseits durchbricht Vuillard diese nicht, da das Schlafzimmer weiblich konnotiert bleibt, andererseits widersetzen sich nach Berrys Analyse seine Darstellungen der Schlafenden den künstlerischen und sozialen Konventionen dieses Sujets. Die Autorin widersteht allzu versöhnlichen Interpretationen und lässt Widersprüche zu - beispielsweise scheut sie nicht vor der Diskussion von Werken zurück, die die patriarchale Ordnung unangetastet lassen.

Kapitel 3, das sich dem Motiv der Mutter in den Bildern widmet, basiert auf einem früheren Aufsatz [2], mit dem es sich über weite Strecken deckt, und fällt durch seinen psychoanalytischen Ansatz methodisch aus dem Rahmen des Buchs. Neu hinzu kommt die Analyse der Grafikserie Paysages et Interieurs: mit Fokus auf Räumlichkeit, Materialität und verkörpertem Betrachter:innenbezug wird das Verhältnis der Innenraumdarstellungen zu Vorstellungen des Mütterlichen eindrücklich beschrieben.

Der in Kapitel 2 thematisierte privilegierte Zugang des Künstlers zur Privatsphäre seiner weiblichen Verwandten wird in Kapitel 4 auf einer weiteren Ebene verhandelt. Berry ergänzt die bestehende Forschung, in der der Schneidereibetrieb der Mutter, der dem Erhalt der Familie diente, vor allem als wichtiger Motivfundus für Vuillard erschlossen wurde, um entscheidende Informationen zur rechtlichen Grundlage von Familienbetrieben, zu für Frauen diskriminierenden Regulierungen von Arbeit und zu literarischen Verhandlungen der Schneiderin als Inbegriff der arbeitenden Frau in der modernen Stadt. Aus dieser Diskursanalyse geht hervor, dass Schneiderinnen voyeuristischen und fetischistischem Blickregimen ausgesetzt waren, die in Vuillards Darstellungen kritisch reflektiert werden - Berry grenzt diese hierbei von Edgar Degas Bildern arbeitender Frauen ab.

Während Kapitel 4 zeigt, dass Vuillard sich für die Multifunktionalität der Wohnräume und dabei für die Übergänge von Häuslichkeit und Produktionsarbeit interessiert, widmet die Autorin das fünfte und letzte Kapitel der Reproduktionsarbeit in Form von Hausarbeit und reflektiert, in welchem Verhältnis Vuillards künstlerische Produktion dazu steht. Die Bandbreite reicht von einem metaphorischen Zusammenfallen von Pinsel und Besen zu Bildern, die Malerei und Hausarbeit als distinkte und gegenderte Tätigkeiten zeigen. Während sich durchaus die Agency von Vuillards Mitbewohnerinnen in der künstlerischen Produktion, die Teil des gemeinsamen Haushalts war, ein Stück weit rekonstruieren lässt - ihre Beteiligung an der Produktion und ihre Rolle als aktive Betrachterinnen - sieht Berry in dem das Buchcover zierendem Werk letztlich Vuillards emphatisches Eingeständnis der Einschränkungen seiner Mitbewohnerinnen durch die Bindung an die häusliche unbezahlte Arbeit, denen er als Künstler nicht unterlag.

Der Autorin gelingt es, die Forschung zu Vuillards Frühwerk auf die skizzierten Felder hin zu öffnen, und sie bietet damit reichlich Potenzial zum Weiterdenken. Die Informationsdichte ist durchaus herausfordernd. Am stärksten sind die Ausführungen dort, wo Berry sich Zeit lässt die relativ schwer zu reproduzierenden Werke ausreichend zu beschreiben und damit die Verhältnisbestimmung von modernistischer Malereiauffassung und häuslicher Produktionsbedingungen konkret nachvollziehbar macht.


Anmerkungen:

[1] Zum Teil geht die aktuelle Publikation auf Berrys unpublizierte Dissertation zurück: Francesca Berry: Un Sanctuaire Inviolable: Domesticity and the Interior in Edouard Vuillard's Work of the 1890's, London 2000. Unpubliziert.

[2] Francesca Berry: Maman is my Muse. The Maternal as Motif and Metaphor in Édouard Vuillard's Intimisme, in: Oxford Art Journal, 34, 1 (2011), 55-77.

Katrin Pirner