Elisabeth Oy-Marra / Annkatrin Kaul-Trivolis (Hgg.): Ordnen - Vergleichen - Erzählen. Materialität, kennerschaftliche Praxis und Wissensorganisation in Klebebänden des 17. und 18. Jahrhunderts, Merzhausen: ad picturam 2024, 255 S., zahlr. Farb-Abb., ISBN 978-3-942919-12-8, EUR 49,40
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Vom 16. bis zum späten 18. Jahrhundert war der Klebeband gängiges Medium zur Aufbewahrung, Ordnung, Konservierung und Präsentation von Druckgrafiken und Zeichnungen; dennoch liegen kaum systematische Überblicksstudien vor. Die Autor*innen liefern mit dem vorliegenden Band einen grundlegenden Beitrag zum bisher nur peripher behandelten Forschungsgegenstand für das 17. und 18. Jahrhundert. Der von Elisabeth Oy-Marra und Annkatrin Kaul-Trivolis herausgegebene Sammelband präsentiert auf 255 Seiten die Ergebnisse der vorausgegangenen Tagung Ordnen, Vergleichen, Erzählen. Die Materialität von Klebebänden und ihre Funktionen in der frühen Neuzeit (31.1.-1.2.2020, Graphische Sammlung der Hessen Kassel Heritage, organisiert von Elisabeth Oy-Marra und Christiane Lukatis). Sie war Teil des abgeschlossenen DFG-Projekts Die Materialität der Wissensordnungen und die Episteme der Zeichnung. Die Zeichnungsalben des Sebastiano Resta.
In der knappen Einleitung umreißen die Herausgeberinnen den Klebeband, bzw. das "Klebealbum" (8) in historischer, terminologischer und theoretischer Hinsicht und stellen alle Beiträge zusammenfassend vor. Unter Rückgriff auf moderne Medientheorien verorten sie den Forschungsgegenstand im Spannungsfeld zwischen Album und Buch. (8-9) Dabei fassen sie Klebebände nicht nur als Behältnisse für Grafiken, sondern als vielfältige Instrumente der Wissensorganisation und denken insbesondere ihre Materialität (9) und Räumlichkeit (10) mit. Der weit gesteckte Anspruch, Klebebände des 17. und 18. Jahrhunderts hinsichtlich ihrer "Organisationsformen, ihren Ansprüchen und Realisierungen, ihrer Herstellung und Verwendung" (11) untersuchen zu wollen, wird durch die inhaltliche und methodische Breite der Aufsätze erfüllt. Untersuchungen seiner epistemischen, materiellen und kennerschaftlichen Dimensionen ziehen sich dabei zentral durch die multiperspektivischen Beiträge. Gleichwohl erschwert die Heterogenität teilweise die Synthese der einzelnen Ansätze. Eine detaillierte Darlegung der Methodik, eine terminologische Rahmung zentraler Begriffe und eine Einordnung in aktuelle Forschungsdiskurse hätten dem Band eine klarere Basis gegeben.
Auf die Einleitung folgen acht fundierte Aufsätze ohne explizite Sektionierung, was die Erfassung übergeordneter Zusammenhänge teilweise erschwert. Die ersten drei Beiträge widmen sich vertiefend der Räumlichkeit von Zeichnungsalben. Genevieve Warwicks Eröffnungsbeitrag knüpft an zentrale Aspekte der Einleitung an, indem sie die "bookishness" (19) von Zeichnungsalben und ihre Verflechtung mit der frühneuzeitlichen Buchkultur herausstellt. An verschiedenen Beispielen zeigt sie deren Wissensordnungen und Positionierung zwischen Bibliothek, Kabinett und Museum auf. Essenziell ist auch ihre terminologische Abgrenzung von Künstler- und Studioalben sowie Notiz- und Skizzenbüchern. Die anschließenden theoretisch dichten Beiträge von Elisabeth Oy-Marra und Annkatrin Kaul-Trivolis widmen sich ergänzend Konzepten der Räumlichkeit bei Sebastiano Resta. Oy-Marra rekonstruiert das nur noch in Abschriften erhaltene Album Senatori in Gabinetto als Sammlungs- und Wissensraum, der zur Ordnung des Wissens dient und seine fiktive Sammlungsarchitektur als historiographische Strategie nutzt. Kaul-Trivolis zeigt auf, dass Resta in seiner Galleria portatile als Erinnerungsraum (88) universelle Wissenskonstrukte mnemonisch nutzbar macht, um das Erinnerungsvermögen der Rezipient*innen der Mailänder Akademie zu steigern.
Anschließend verschwimmt eine thematische Linie und das Themenspektrum wird breiter. Gudula Metze lenkt den Fokus auf die zunehmende Bedeutung des "Inventars und Handbuchs" (104) im 18. Jahrhundert. Am Manuskript zu Klebebänden der italienischen Malerschule des Dresdner Kupferstichkabinetts von 1738 zeigt sie, dass Rezipient*innen vertiefende Informationen zu Künstler und Werk an die Hand gegeben wurden und so unmittelbare Text-Bild-Verschränkungen entstanden. Weniger beachtete Kontexte rückt Friederike Weis mit ihrem Beitrag zu persischen und moghulischen Alben in den Blick, der den in der Forschung maßgebenden eurozentrischen Blick auf Klebebände um transkulturelle Dimensionen erweitert. Dabei führt sie in den Aufbau, Leserichtung und Funktion der Alben als Repräsentationsobjekte ein. Am Beispiel des Schweizers Antoine Polier zeigt die Autorin die doppelte Position europäischer Sammler im kolonialen Indien, die aktiv an lokalen Sammlungstraditionen partizipierten, Alben aber zugleich für eine europäische Lesart umdeuteten.
Die letzten drei Aufsätze vertiefen das dynamische Potenzial von Klebebänden. Anhand kunsttechnologischer Untersuchungen der Karlsruher Piranesi-Alben unterstreicht Maria Krämer den Forschungsmehrwert materialbasierter Analysen. Sie zeigt u.a., wie sich der Umgang mit den Zeichnungen zwischen der Werkstattpraxis Piranesis und der Nutzung des späteren Besitzers Friedrich Weinbrenner als Anschauungs- und Schulungsmaterial wandelte. Hendrieckje Kehlenbeck und Sonja Ruth beleuchten druckgrafische Porträt-Klebebände als zentralen Bestandteil fürstlicher Kupferstichsammlungen der frühen Neuzeit am Beispiel der Landgrafen von Hessen-Kassel. Neben der Materialität und epistemischen Funktion stellen sie heraus, wie die Bände vom 17. bis zum frühen 19. Jahrhundert als "dynamische Gebrauchsgegenstände" (203) vielfältigen Neuorganisationen innerhalb ihrer Bestandsgeschichte unterworfen waren. Eduard Wätjen beschließt den Band mit einer Untersuchung der Zeichnungsalben des Leipziger Sammlers Gottfried Wagner, die nach dem Ankauf durch August den Starken in den Bestand des Dresdner Kupferstichkabinetts integriert wurden. Er zeigt exemplarisch, wie ursprüngliche Ordnungssysteme von Klebebänden im Zuge musealer Eingliederung verändert (und aufgelöst) wurden.
Der Tagungsband verdeutlicht, wie heterogen zum einen das Untersuchungsmaterial, zum anderen die notwendigen Methoden sind, um Klebebände als frühneuzeitliches Phänomen greifbar zu machen. Leser*innen dürfen entsprechend kein vollständiges Bild oder gar eine Geschichte des Klebebands im 17. und 18. Jahrhunderts erwarten. Der überzeugende Forschungsmehrwert des Bandes liegt darin, aktuelle und bisher weniger beachtete Untersuchungsaspekte zum Klebeband durch die heterogenen Aufsätze schlaglichtartig zu beleuchten und zusammenzuführen. Alle Aufsätze sind dabei überzeugende Einzelstudien, die auch unabhängig voneinander hätten publiziert werden können. Die Vielfältigkeit erschwert derweilen das Herstellen von Querverbindungen, die zentralen Themen Materialität, Wissensorganisation und Kennerschaft sind jedoch allgegenwärtig. Kritisch anzumerken ist der deutliche Fokus auf das Medium der Zeichnung in Klebebänden. Da bisher vor allem druckgrafische Klebebandsammlungen erforscht wurden, ist dies zwar nachvollziehbar, hätte aber erläutert werden sollen. Insgesamt liefert die Publikation vielfältige Anknüpfungspunkte für weitere Auseinandersetzungen mit Klebebänden der Frühen Neuzeit. Leser*innen dürfen sich zudem über die Open-Access-Publikation des Bandes freuen.
Nina Günther