Rezension über:

Jochen Hellbeck: Ein Krieg wie kein anderer. Der deutsche Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. Eine Revision. Aus dem Englischen von Karin Hielscher, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2025, 688 S., 50 s/w-Abb., ISBN 978-3-10-397050-0, EUR 36,00
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Rezension von:
Christoph Dieckmann
Frankfurt/M.
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Christoph Dieckmann: Rezension von: Jochen Hellbeck: Ein Krieg wie kein anderer. Der deutsche Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. Eine Revision. Aus dem Englischen von Karin Hielscher, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2025, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 12 [15.12.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/12/40256.html


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Jochen Hellbeck: Ein Krieg wie kein anderer

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Jochen Hellbeck stellt den Zweiten Weltkrieg und die Shoah aus sowjetischen Perspektiven dar. Er hält diesen Ansatz für nötig, um eine überfällige Revision der Geschichtserzählungen zum Zweiten Weltkrieg herbeizuführen - vor allem in den USA, aber auch in Europa. Der an der Rutgers University in New Jersey lehrende Autor ist 2012 durch den Fund und die Publikation der sogenannten Stalingrad-Protokolle bekannt geworden. Sie stammen aus Interviews, die eine Historikerkommission unter Leitung des Moskauer Historikers Isaak Minz (1896-1991) während des Zweiten Weltkriegs geführt hatte. Diese Aussagen sowjetischer Augenzeugen nutzt er nun und kombiniert sie mit Dokumenten aus dem Archiv Ilja Ehrenburgs, einem der einflussreichsten sowjetischen Autoren während des Kriegs, um die bisherigen Erzählungen mit einem "deutlichen sowjetischen Akzent" zu versehen (35). Welche Geschichtserzählung präsentiert Hellbeck? Der Aufbau des Buchs ist chronologisch in zehn Kapitel gegliedert. In jedem dieser Abschnitte möchte er zeigen: Das wichtigste Motiv für die Verbrechen der Nationalsozialisten habe in ihrem Antibolschewismus, ihrem Hass auf die Sowjetunion, gelegen.

In der Einleitung wird die Grundthese erläutert. Auf der einen Seite stehe der Nationalsozialismus als "Hitlers Projekt, der germanischen Rasse zur alleinigen Vorherrschaft zu helfen" (13), auf der anderen die kommunistische Idee des Universalismus und der internationalen Solidarität. Die Sowjetunion habe humanistische Werte gegen die "Mordphantasien von Millionen Deutschen" verteidigt, die ab 1941 in einem beispiellosen Vernichtungskrieg umgesetzt worden seien (24). Der Antikommunismus sei die treibende Kraft des nationalsozialistischen Vernichtungskriegs gegen den "jüdischen Bolschewismus" gewesen. Das würde im Westen negiert, und überhaupt sei das Bild der Sowjetunion nach wie vor von einer massiven Abneigung bestimmt, voller antikommunistischer Vorurteile und orientalisierenden Klischees. Wer glaube, dass die Juden als Juden verfolgt worden seien, übersehe, dass sich die extremste Gewalt gegen einen politischen Feind gerichtet habe, nämlich gegen Juden als vermeintliche "Vertreter der kommunistischen Ideologie" (28). Es sei ein Angriff auf die "sowjetische Zivilisation" gewesen, das Recht auf Bildung, die Emanzipation der Frau, den Internationalismus und die Völkerfreundschaft. Diesem Muster folgt das ganze Buch: nationalsozialistische (oder deutsche) Barbarei gegen sowjetische (oder russische) Zivilisation.

Der Aufstieg und die Machterlangung der NSDAP verdanke sich einer breiten antibolschewistischen Front, und die Repression der deutschen Kommunisten sei das wichtigste erste Ziel gewesen. Als Hellbeck den Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April 1933 schildert, bedauert er, dass dadurch der Angriff auf den Kommunismus aus den Schlagzeilen geraten sei. Eben das erscheint immer wieder als eines der Anliegen Hellbecks, wenngleich eher implizit als explizit: die zentrale Stellung des Antibolschewismus sei durch die Betonung des Antisemitismus verdrängt worden.

Während NS-Deutschland aufrüstete, habe Stalin versucht, die sowjetische Gesellschaft zu "stählen", und die "rücksichtslose Kollektivierungspolitik" sei durch das "sowjetische Sicherheitsbedürfnis bedingt" gewesen (90). Die Millionen Opfer dieser sowjetischen Politik werden zwar kurz erwähnt. Aber das erscheint eher als Pflichtaufgabe. Denn viel ausführlicher erzählt Hellbeck von sowjetischen Autoren als Hütern der Humanität, vom neuen Menschen, den die Revolution erschaffen habe. Das gleiche Muster wiederholt sich in der Schilderung der sowjetischen Verfolgungen von Parteimitgliedern und Rotarmisten sowie nationalen Minderheiten in den 1930er Jahren. Das alles wird kurz gestreift, um dann umso ausführlicher von den Reisen Lion Feuchtwangers und dessen Hoffnung auf die antifaschistische Festung UdSSR zu schreiben.

Als sich 1938/39 die sowjetische Führung in ihrer antifaschistischen Front alleingelassen gefühlt habe, habe sie sich strategisch neu ausgerichtet, und man habe ein Bündnis mit Hitler geschlossen, gleichsam gezwungenermaßen aus Sicherheitsinteressen heraus. Auch bei der sowjetischen Terror- und Deportationspolitik in Ostpolen zwischen 1939 und 1941 dürfe man nicht vergessen, dass der Sozialismus eingeführt worden sei.

Den Krieg gegen die Sowjetunion habe Hitler "vornehmlich aus ideologischer Perspektive" betrachtet. Daher hätten die deutschen Soldaten "das Mandat" erhalten, "nach Belieben Tod und Vernichtung über den Osten zu bringen" (149, 152). Hellbecks Schilderung der ersten Monate der deutschen Kriegführung im Westen der Sowjetunion fällt beträchtlich hinter den Stand der Forschung zurück. Für Hellbeck kommt es auch nicht auf die konkreten Kontexte an, ihm ist wichtig, dass es gegen "Träger der bolschewistischen Idee" ging. Die Ermordung der sowjetischen Juden und dann aller Juden Europas sei aufgrund der nationalsozialistischen Fixierung auf das jüdisch-bolschewistische Feindbild geschehen. Das "Wahngebilde" der Juden als bolschewistische Agenten habe die Massenerschießungen ausgelöst und sei im Dezember 1941 auf alle Juden Europas ausgedehnt worden, und zwar als "historische Rache am jüdischen Bolschewismus" (184, 206). Ab März 1942 sei das Schicksal der europäischen Juden dem Muster der sowjetischen Kriegsgefangenen gefolgt, deren Schicksal wiederum von der Figur des "jüdischen Kommissars" geprägt worden sei (219).

Ab Kapitel sechs geht es um den Rückzug der Wehrmacht, und Hellbeck schreibt: "Das sowjetische Volk in seiner Gesamtheit bildete eine einzige Armee" (273). Solch ein Satz ist nicht etwa als sowjetische Propaganda oder als Wunschdenken gekennzeichnet, sondern Hellbecks historische Darstellung. Ilja Ehrenburgs Texte liefern in vielen Kapiteln die Stichworte für Hellbecks Wortwahl. Besonders ab 1943 taucht in Hellbecks Darstellung auf, dass vermeintlich in der NS-Propaganda "der Russe" die Stelle "des Juden" übernommen habe (357, 464 f.). Zudem wird Russland immer wieder mit der Sowjetunion identifiziert. Die englische Übersetzung ist angekündigt unter "World Enemy No. 1: Nazi Germany, Soviet Russia, and the Fate of the Jews".

Das neunte Kapitel mit der Schilderung der sexuellen Gewalt durch Rotarmisten bei der Eroberung von deutschem Reichsgebiet liest man geradezu fassungslos. Hellbeck plädiert im Grunde für Verständnis für die flächendeckenden Ausschreitungen und Vergewaltigungen. Die Unterscheidung zwischen Erklären und Rechtfertigen geht hier verloren. Für Berlin wird ein Leutnant zitiert: "Keine einzige Frau zwischen fünfzehn und sechzig Jahren, die nicht einen Russen erlebt hätte. Und das nicht nur einmal." Hellbecks historische Einordnung sieht so aus: "Wenn die sowjetischen Gewalttaten gegen die deutsche Zivilbevölkerung die Übergriffe anderer alliierter Soldaten in den Schatten stellten, so war das in erster Linie auf das unvergleichlich größere Leid der sowjetischen Bevölkerung zurückzuführen. [...] Die sowjetische Gewaltexplosion in Deutschland entlud sich aus einer millionenfachen Erfahrung von unermesslichem Leid. Diese Erfahrung konnte freilich nicht das Leid rechtfertigen, das die Soldaten der Roten Armee ihrerseits Hunderttausenden von deutschen Zivilisten zufügten." (460 f.) Der Nachsatz wirkt merkwürdig pflichtschuldig, wie eine Seite später klar wird, als von humanistischen Werten und Notwehr die Rede ist: "Die Deutschen setzten von Anfang an auf Gewalt und Vernichtung und hielten bis zur endgültigen Niederlage daran fest. Der sowjetische Einmarsch in Deutschland 1944/45 folgte einer Logik der Notwehr und war getragen von humanistischen Werten, die nicht nur die Gewaltexzesse, die es auf sowjetischer Seite gab, in Bahnen lenkten, sondern die nicht zuletzt dafür sorgten, dass die meisten Deutschen nach dem Krieg leben durften - mehr noch: gut leben." (462)

Im letzten Kapitel geht es um die vermeintlich gelöschte Erinnerung an die sowjetischen Kriegsopfer und den sowjetischen Beitrag zum Sieg über den Nationalsozialismus. Auch hier sind die Ausführungen Hellbecks unterkomplex und einseitig. Heute sollte es selbstverständlich sein, die Geschichte aller Opfergruppen angemessen zu erzählen und ihre Erinnerung zu wahren.

Die angestrebte Revision der Erzählung zum Zweiten Weltkrieg und der Shoah scheitert auf ganzer Linie. Viele einzelne Geschichten sind lesenswert und schildern oft die Leidenswege von Menschen in der Sowjetunion. Aber die fehlende kritische Distanz zu sowjetischen Propagandanarrativen macht die Lektüre mühsam. Das Buch ist von gravierenden Inkonsistenzen und Widersprüchlichkeiten durchzogen, viele Details stimmen nicht. Die Reduzierung der Gründe für die Massenverbrechen und die Shoah auf eine antikommunistische Mordlust der Deutschen ist eine simplifizierende Engführung. Antisemitismus und Antibolschewismus des NS-Regimes müssen - trotz Überschneidungen - deutlich unterschieden werden, sonst bleiben die Spezifika der nationalsozialistischen Weltanschauung unklar.

Hellbeck versucht zudem erst gar nicht, die Verbrechen in den Kriegsverlauf und die Besatzungspolitik einzubetten. Die Entwicklungen geschehen einfach, ohne dass er ernsthaft nach Entscheidungen und Kontexten fragt. Hellbecks Antwort - Antibolschewismus - ist keine Revision, sondern ein altes sowjetisches und simplifizierendes Narrativ.

Christoph Dieckmann