Marius Winzeler: Schach-Matt. Das barocke Prunkschach im Grünen Gewölbe, Dresden: Sandstein Verlag 2024, 115 S., ISBN 978-3-95498-819-8, EUR 18,00
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Über das Schachspiel als eines der ältesten Brettspiele der Welt scheint eigentlich bereits alles Wesentliche gesagt und geschrieben zu sein. Dass dem keineswegs so ist und das Schachspiel im Gegenteil ein lebendiges Feld kunsthistorischer Forschung bildet, belegt eindrucksvoll der vorliegende Katalog.
Kaum ein anderes Brettspiel weist eine solch große Bandbreite an Material- und Themenvielfalt auf, wie die Vielzahl unterschiedlich gearbeiteter Schachbretter, Figurensets und Spielkästen zeigt. Dem Schachspiel als einfachem Gebrauchsobjekt stehen seit jeher besonders kostbare und handwerklich aufwendige Einzelanfertigungen gegenüber. Solche Prunkschachspiele waren weniger zum Spielen gedacht, sondern vielmehr Ausdruck höchster Kunstfertigkeit und ein entsprechend beliebtes Sammelobjekt Wohlhabender. Neben anderen Brettspielen wie Mühle, Dame oder Tricktrack lassen sie sich in den meisten Kunstkammerinventaren der Renaissance und des Barocks nachweisen, wenngleich davon nur noch wenige komplett erhalten sind (16).
Ähnlich verhält es sich in den historischen Dresdner Sammlungen, in denen einst 14 Prunkschachspiele mit knappen Beschreibungen verzeichnet waren. Keines davon ist jedoch im Bestand erhalten geblieben. Deshalb konnte mit dem Erwerb eines barocken Prunkschachspiels anlässlich des 300. Geburtstags des Grünen Gewölbes im Jahr 2023 eine Sammlungslücke geschlossen werden (9). Das Dresdner Schachensemble erweist sich hinsichtlich seiner materialästhetischen und künstlerischen Qualität als einzigartig: Das Spielfeld ist aus "Schildplatt und grün eingefärbtem Elfenbein sowie ornamentalen Silbereinlagen" gefertigt (48). Die zugehörigen handgeschnitzten und allesamt individuell gestalteten Figuren sind aus Elfenbein und Ebenholz und werden dem Dresdner Barockbildhauer Paul Heermann zugeordnet (8). Mit dem Ausstellungskatalog, der anlässlich der monografischen Ausstellung des Prunkschachspiels 2024 im Sponsel-Raum des Dresdner Residenzschlosses erschienen ist, werden die bisherigen Forschungen zu dem Kunstwerk zusammengefasst (8, 10).
Der Katalog enthält sechs Einzelbeiträge verschiedener Autorinnen und Autoren, die ihre Forschungsergebnisse zum Dresdner Prunkschach in einen größeren kunsthistorischen und kulturwissenschaftlichen Kontext einordnen. Marius Winzeler führt im einleitenden Beitrag durch den Erwerbungsprozess des Schachspiels (8-13). Der Beitrag von Katja Paul erörtert die Geschichte und Herkunft des Schachspiels im Allgemeinen (14-21). Damit konturiert sie, ausgehend von der Popularität des Spiels in der Gegenwart, seine herausragende Bedeutung als Objekt höfischer Kultur in der Renaissance und des Barocks (16-19). Dies erklärt letztlich seinen Status als begehrtes Kunstkammer- und Repräsentationsobjekt (16-21).
Jan-Markus Göttsch untersucht die Ikonografie des Prunkschachs im Spannungsfeld von "historischer Wirklichkeit und imaginierter Weltsicht" (23) im Kontext europäischer Expansion und des Kolonialismus ab dem 16. Jahrhundert (22-37). Unter Bezugnahme auf zeitgenössische Schrift- und Bildquellen verdeutlicht er, welche eurozentristischen Traditionslinien und Typisierungen die Figurenikonografie im Dresdner Prunkschach aufgreift (23-31). Die Erläuterungen zur Wandlung des Schachspiels während Spätmittelalter und Renaissance in Europa, mitsamt der Figurengenese und den reformierten Zugweisen, ließen sich noch mit weiteren Quellen- und Literaturhinweisen verdichten. So wird das Libro de los juegos des kastilischen Königs Alfons X. in diesem Zusammenhang nicht erwähnt. Bereits 1283 entstanden, erlaubt das reich illustrierte Buch einen Einblick in die Spielepraxis im späten Mittelalter und enthält die erste Schachproblemsammlung. Auch der Umstand, dass gerade die Dame zur stärksten Spielfigur avanciert, wird in einer Fußnote nur äußerst knapp erklärt, wobei es doch inzwischen ausführliche Forschungen zu dieser bemerkenswerten Wandlung gibt. [1]
Katja Paul legt in ihrem Beitrag den aktuellen Stand zur Provenienz des Dresdner Schachspieles dar (38-45). Aufgrund der überschaubaren Quellenlage zur Herkunft und Geschichte des Prunkschachspiels waren stilistische Vergleiche sowie eine Inschrift Heermanns an einer Spielfigur in Zuschreibungsfragen umso erkenntnisreicher, wie die Autorin ausführt (42-43).
Der Beitrag von Michael Wagner und Rainer Richter widmet sich schließlich Aspekten des Materials und der Technik (46-53). Die Autoren beantworten damit die einschlägigen Fragen zur "Materialität, Herstellungstechniken und technologischen Besonderheiten aus konservatorischer und restauratorischer Perspektive" (47).
Der Katalog wird mit einem Beitrag von Jutta Kappel zu Paul Heermann und der Würdigung seiner Arbeit als Elfenbeinschnitzer abgeschlossen, in dessen Œuvre die Schachfiguren eingeordnet werden (54-71). Die Autorin gibt darüber hinaus einen Überblick über die Zusammenarbeit verschiedener Künstler und Gewerbe der "höfischen Schatzkunst zu Zeiten des Augusteischen Barock" (60-62). Dieser Abschluss des Katalogs scheint etwas kurzgeraten. Unter der Überschrift "Ausblick und Neubewertung" hätte, neben einer abschließenden inhaltlichen Zusammenführung der vorangegangenen Beiträge, noch ein tatsächlicher Ausblick auf die zukünftige Forschung und offen gebliebenen Fragen erwartet werden dürfen. Ebenso wäre eine deutlichere Verortung des Spiels im Kontext der übrigen Prunkschachspiele der historischen Dresdner Sammlungen wünschenswert gewesen. Methodisch nicht ganz unproblematisch erscheint zudem ein Exkurs um stilistische Zuschreibungen an Heermann (59-60). Die Ausführlichkeit eines solchen Diskurses wäre ohnehin nicht zwingend notwendig gewesen. Dabei werden jedoch die mit der kunsthistorischen Stilanalyse einhergehenden methodischen Unsicherheiten auffallend wohlwollend zugunsten der eigenen Argumentation ausgeblendet.
Davon unbenommen gelingt den Autorinnen und Autoren mit den kompakten multiperspektivischen Beiträgen insgesamt eine handliche Fallstudie mit hoher Informationsdichte. Da die zusammengetragenen Ergebnisse in den dialogischen Beiträgen aufeinander aufbauen und kontinuierlich referenziert werden, ergibt sich ein stimmiges Gesamtbild zum derzeitigen Forschungsstand. Ein solches Vorgehen darf durchaus als Blaupause für zukünftige Forschungen zu anderen Schachspielen gelten: Individuelle objektbezogene Fragen zur Figurenikonografie, Spielbrettgestaltung sowie zur Provenienz aus verschiedenen Perspektiven zu beantworten und miteinander zu verknüpfen, kann, wie am Dresdner Beispiel deutlich wurde, wertvolle Informationen zur Spielepraxis wie auch zur Kunst- und Kulturgeschichte des Schachspiels liefern.
Dahingehend lobenswert ist, dass die kunsthistorische Bedeutung des Schachspiels ausgehend vom Objekt selbst erschlossen wird, anstatt wie sonst in der Mehrzahl großer Überblickswerke zum Schachspiel, die die Geschichte des Spieles anhand einer Aneinanderreihung verschiedener Objekte abzubilden versuchen. Weiterhin vorbildlich ist die Transparenz der wissenschaftlichen Methodik und Vorgehensweise zur Erschließung des Objektes, wie auch die Tatsache, dass Forschungslücken und Desiderate klar benannt werden (40, 45, 50, 53, 69). Der erfreulicherweise reich bebilderte Katalog würdigt auch die einzelnen Figuren des Schachspiels in einem eigenen Abbildungsteil mit nummerierten Detailaufnahmen (72-110). Durch ein beschriftetes Schachbrett auf der Innenseite des Buchumschlages lassen sie sich auch den entsprechenden Spielfeldern in der Grundaufstellung zuordnen. Das Quellen- und Literaturverzeichnis gibt die Möglichkeit zur weiterführenden Lektüre (111-114).
Kleinere Kritikpunkte trüben keineswegs die gleichsam informative wie unterhaltsame Lektüre des Kataloges, in dem bisweilen komplexe Forschungsfragen transparent diskutiert werden, die sowohl für ein kunsthistorisches Fach- als auch für ein interessiertes Laienpublikum äußerst lehrreich sind. Insbesondere über dieses Schachspiel - so haben die Autorinnen und Autoren mit dem Ausstellungskatalog bewiesen -, wird es in Zukunft also noch einiges zu sagen und schreiben geben.
Anmerkung:
[1] Marilyn Yalom: Birth of the Chess Queen, New York 2005; Ernst Strouhal (Hg.): Vom Wesir zur Dame. Kulturelle Regeln, ihr Zwang und ihre Brüchigkeit. Über kulturelle Transformationen am Beispiel des Schachspiels, Wien 1995.
Lavinia Otters