Friedrich Tietjen (Hg.): "
irgendwer hat immer fotografiert ...". Private Fotografie in Ostdeutschland 1980-2000, Leipzig: Spector Books 2024, 160 S., ISBN 978-3-95905-699-1, EUR 28,00
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"Privat geht vor Katastrophe" lautete ein beliebtes Bonmot in der DDR. Es beschreibt auch die Ausrichtung innerhalb der fotografischen Bestände, die in dieser Studie untersucht werden. Ende 2024 erschienen, bildet das Buch den Abschluss eines Forschungs-, Ausstellungs- und Dokumentationsprojektes unter der Leitung des Fotohistorikers und -kurators Friedrich Tietjen, das von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur gefördert wurde [1]. Private Fotografie in Ostdeutschland wird darin als eine soziale Praxis verstanden. So führten die Projektbeteiligten insgesamt 53 Interviews mit den Urheber:innen von privaten Fotos und Alben. Sie konzentrierten sich auf eine quantitative Auswertung des umfangreichen Materials, das ihnen Privatpersonen infolge einer Ausschreibung zur Verfügung stellten. Auf die Einleitung des Herausgebers folgen drei Aufsätze zu ausgewählten Fallbeispielen der Kunstwissenschaftlerinnen Marie Egger, Judith Riemer und Marit Lena Herrmann sowie ein weiterer von Friedrich Tietjen, der sich besonders ansprechenden Fundstücken wie abfotografierten Fernsehbildschirmen des Westfernsehens und Reproduktionen westdeutscher Zeitschriftencover widmet. Der schmale Sammelband endet mit einer tabellarischen Übersicht zu zehn ausgewählten Alben- und Fotobeständen.
Der große Mehrwert der Textbeiträge besteht darin, dass die Autor:innen auf überzeugende Weise die jeweiligen polyvalenten Erzählweisen herausarbeiten, die in den Fotoalben und anderen Konvoluten aus Privathaushalten der DDR angelegt sind. Zu diesem Zweck befassen sie sich ausführlich mit den Materialitäten und Gestaltungselementen ausgewählter Objekte. Die Informationen aus den erwähnten Interviews, den sogenannten Albengesprächen, zum Entstehungskontext der Aufnahmen werden an vielen Stellen in die Untersuchungen einbezogen. Zugleich dienen sie als Grundlage für eine Reflexion über unterschiedliche Deutungsebenen und -hoheiten, die nicht nur im spezifischen ostdeutschen Kontext, sondern generell in der privaten Fotografie häufig kaum zu rekonstruieren sind. Detailgenau werden Prozesse der Filmentwicklung in der heimischen Dunkelkammer (Herrmann), des Anfertigens von Kontaktbögen (Egger) sowie der Gestaltung von Fotoalben (Riemer) geschildert. Insbesondere Friedrich Tietjen bringt das Medium Fotografie auch mit ökonomischen und zeitgeschichtlichen Fragestellungen in Verbindung. Im Rahmen der Materialsichtung kristallisierte sich für ihn schnell heraus, dass der Motiv-Kanon innerhalb der privaten Fotografie relativ begrenzt sei. Er sprach in dem Zusammenhang sogar von einer "permanenten Wiederholung" [2]. Bereits in einem früheren Projekt Tietjens zur privaten Fotografie in Österreich 1930-1950, das methodische Parallelen zum Projekt zur privaten Fotografie in der DDR aufweist, fielen ähnliche Bildtypen auf [3]. Mit Blick auf sein Interesse an der privaten Fotografie in gesellschaftlichen Transformationsphasen formuliert er in der Einleitung zum hier besprochenen Buch: "Wären die Aufnahmen aus privaten Fotoalben die einzige Quelle für die Geschichte Ostdeutschlands zwischen 1980 und 2000, dann müssten diese Jahre für die Bevölkerung eine Abfolge von Urlauben, Festen und glücklichen Tagen in Schrebergärten gewesen sein" (6). Damit ist der Ausgangspunkt des gemeinsamen Spannungsbogens der Aufsätze benannt: Die Fragestellung setzt bei den ausgeblendeten Momenten und zeitlichen Lücken an und es wird die These aufgestellt, in der privaten Fotografie würden politische Ereignisse nicht bzw. kaum dokumentiert. Unisono bestätigen die Autor:innen diese Annahme als einen Befund in ihren jeweiligen Untersuchungen. Tietjen hält fest, dass historische Brüche, die für den gewählten geografischen und zeitlichen Abschnitt vor allem die Demonstrationen im Herbst 1989 und der Untergang der DDR als eigenständiger Staat im Jahr darauf gewesen wären, in der privaten Fotografie, die im Rahmen dieses Projektes ausgewertet wurde, kaum Spuren hinterlassen haben (13).
Als erste Annäherung an die schiere Masse des Materials und als dramaturgische Klammer der Aufsätze ist der gewählte Suchfilter nach Zeichen des politischen Umbruchs ein Weg, der sich methodisch nachvollziehen lässt. In seiner inhaltlichen Aussagekraft überrascht er jedoch wenig, nicht zuletzt, da keine Querverbindung zu den professionellen Fotograf:innen der DDR hergestellt wird, die die vermissten politischen Bildformeln durchaus umfassend bedienten. Möglicherweise hat gerade die mediale Überpräsenz der Ereignisse gewisse Fehlstellen in der privaten Fotografie mitbedingt? Offen bleibt auch, ob es Überschneidungspunkte zwischen den Urheber:innen der untersuchten Bestände und der in der DDR stark organisierten Amateur- und Fotoclub-Szene gab. Der Band konzentriert sich vielmehr auf eine fundierte und sehr fokussierte Auswertung der Bestände unter dem Aspekt des Bedeutungs- und Materialwechsels innerhalb der fotografischen Praxis in Ostdeutschland im genannten Zeitraum, die im Ergebnis zu einer vielversprechenden Wendung führt: Denn in der Ausarbeitung der Fotos und Alben sind die Autor:innen durchaus auf Brüche gestoßen. Diese seien nicht zuletzt auf die veränderten fototechnischen und ökonomischen Rahmenbedingungen zurückzuführen. Der Wechsel zur Farbfotografie zwischen 1990 und 1992 beispielsweise, der durch die Verbreitung der Drogerieketten und ihren kostengünstigen Angeboten zur Filmentwicklung im Osten Deutschlands stimuliert wurde und das Selbstentwickeln der Schwarzweißfilme ablöste, kann als eine solche Bruchlinie verstanden werden.
Als Zugewinn für die fotohistorische Forschung ist es deshalb zu werten, dass das Projekt über bildhermeneutische Zugänge hinausgeht und das Augenmerk auf die Darstellung komplexer Handlungsgefüge richtet, an denen Akteur:innen, Materialitäten und Zeitschichten mitwirken. Dem materialbewussten Ansatz entspricht auch die Buchgestaltung. Natasha Agapova hat ein auffallend handliches Format sowie einen robusten grauen Kartoneinband entworfen. Im Inneren der über eine japanische Bindung zusammengehaltenen Buchseiten sind zusätzliche Abbildungen versteckt - Bilder, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren, können nun eine mittelbare Rezeption erfahren. Der Band beweist einmal mehr, dass es sich lohnt, marginalisierte Fotografien zu entdecken und ihre Erscheinungsformen sowie ihren Gebrauch aus interdisziplinären Perspektiven zu erschließen. In der hier erstmals wissenschaftlich betrachteten Fundgrube offenbart sich eine aufschlussreiche Vermischung aus Selbstinszenierung, sozialer Funktion und Dokumentationscharakter des fotografischen Bildes, die zu weiteren Analysen sowie zu einer Einordnung in den fotogeschichtlichen Gesamtzusammenhang anregen sollte.
Anmerkungen:
[1] Siehe https://stiftung-reinbeckhallen.de/programm/biografie-und-geschichte-private-fotografie-aus-ostdeutschland-1980-2000/ (letzter Zugriff 24.11.2025). Zum Projekt zählte auch die gleichnamige Ausstellung in der Stiftung Reinbeckhallen, Berlin, 20.11.2021 - 20.2.2022, in der umfangreiches Fotoalben-Material präsentiert und zur eigenen aktiven Auseinandersetzung damit angeregt wurde.
[2] Friedrich Tietjen auf der Buchvorstellung an der Deutschen Fotothek, Dresden, 18.3.2025.
[3] Siehe die Forschungsausstellung "Alle antreten! Es wird geknipst!" Private Fotografie in Österreich 1930-1950, Volkskundemuseum Wien, 10.10.2018 - 17.2.2019.
Annekathrin Müller