Rezension über:

Anselm Pell: Handlungsspielräume eines Reichsfürsten im Zeitalter der Ambiguität. Johann Albrecht II. zu Mecklenburg-Güstrow im Spannungsfeld von Regierungshandeln, Dynastie und Außenbeziehungen (= Quellen und Studien aus den Landesarchiven Mecklenburg-Vorpommerns; Bd. 25), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2025, 476 S., 2 Farb-Abb., ISBN 978-3-412-53208-6, EUR 75,00
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Rezension von:
Julia Eder
Universität Passau
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Julia Eder: Rezension von: Anselm Pell: Handlungsspielräume eines Reichsfürsten im Zeitalter der Ambiguität. Johann Albrecht II. zu Mecklenburg-Güstrow im Spannungsfeld von Regierungshandeln, Dynastie und Außenbeziehungen, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2025, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 12 [15.12.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/12/39867.html


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Anselm Pell: Handlungsspielräume eines Reichsfürsten im Zeitalter der Ambiguität

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In seiner umfangreichen Dissertation legt Anselm Pell eine fundierte Analyse der Regierungspraxis Johann Albrechts II. von Mecklenburg-Güstrow (1590-1658) vor. Unter dem programmatischen Titel Handlungsspielräume eines Reichsfürsten im Zeitalter der Ambiguität untersucht Pell, wie ein Fürst mittlerer Reichsbedeutung seine Handlungsmöglichkeiten zwischen dynastischen Interessen, innerterritorialer Herrschaft und außenpolitischen Zwängen auszutarieren versuchte und dabei stets mit Unsicherheiten und widersprüchlichen Erwartungen umgehen musste.

Die Arbeit positioniert sich dezidiert innerhalb der neueren Fürstenforschung und versteht sich zugleich als Beitrag zur historischen Ambiguitätsforschung. Die thematisch strukturierte Gliederung erlaubt es Pell, Johann Albrechts Regierungshandeln unter verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. Zugleich problematisiert die Untersuchung die traditionelle historiografische Fokussierung auf "große" Fürstenfiguren und betont stattdessen die Erkenntnispotenziale, die in der Betrachtung sogenannter "kleiner" oder peripherer Fürsten wie Johann Albrecht II. von Mecklenburg liegen. Statt politische Leistung allein an Modernisierungs- und Zentralisierungskriterien zu messen, wird ein kulturgeschichtlicher Ansatz verfolgt, der Fürsten als Akteure in einem komplexen Geflecht konkurrierender Normen und Erwartungen versteht. Eine teils eher einseitige, negative Bewertung Johann Albrechts in der älteren Forschung, etwa durch Ernst Boll, wird überzeugend als Ergebnis eines anachronistischen, staatszentrierten Denkens eingeordnet, das von einem rationalen Politikverständnis des 19. Jahrhunderts geprägt war. Pells Studie plädiert daher für eine differenzierte Betrachtung frühneuzeitlicher Herrschaft, die deren Vielschichtigkeit und situative Einbettung im Spannungsfeld zwischen Reichsstrukturen und regionalen Machtverhältnissen, wie etwa hier im Ostseeraum, stärker berücksichtigt.

Zentraler analytischer Begriff ist die Ambiguität, die Pell nicht als Defizit, sondern als konstitutives Element frühneuzeitlicher Politik versteht. Im 17. Jahrhundert waren Rechtsnormen, Loyalitäten und politische Allianzen oft instabil und vielfach widersprüchlich oder zumindest mehrdeutig. Johann Albrecht erscheint daher laut Pell nicht als schwacher Randfürst im Schatten "großer" Akteure, sondern als exemplarischer Vertreter einer politischen Kultur, in der das Navigieren durch Widersprüche zur Voraussetzung erfolgreichen Regierungshandelns gehörte.

Ein besonderes Augenmerk legt Pell auf die dynastischen Strategien des Hauses Mecklenburg-Güstrow. Er zeigt detailliert, wie sehr Eheschließungen, Erbregelungen und Familienbande mit den großen Linien der Reichspolitik verflochten waren - etwa in Bezug auf Brandenburg, Schweden und Dänemark. Als Zweitgeborener musste sich Johann Albrecht qua Geburt in einer ambivalenten Rolle asymmetrischer Strukturen zurechtfinden: Zwar nicht erbberechtigt im Sinne der sich etablierenden Primogenitur, wurde er dennoch als Regent erzogen und unter dem Ideal der "Freundbrüderlichkeit" auf eine gleichrangige Teilhabe vorbereitet. Tatsächlich blieb die Machtverteilung innerhalb des Hauses Mecklenburg letztlich pragmatisch, abhängig von konkreten Interessen, persönlichen Beziehungen und außenpolitischen Verflechtungen, die dem jüngeren Fürsten schließlich materielle und symbolische Gleichrangigkeit sichern sollten, geprägt. Diese Konstellation diente nicht nur der Machtsicherung, sondern wurde auch durch konfessionelle Differenzen innerhalb der Familie politisch funktionalisiert - etwa zur Behauptung politischer Deutungshoheit, dynastischer Autorität und moralischer Überlegenheit.

Pells Kapitel zur Konfessions- und Außenpolitik zeigen Mecklenburg-Güstrow als Fürstentum, das inmitten konkurrierender Loyalitäten zwischen Kaiser, protestantischen Mächten und nordischen Königreichen agierte. Pell gelingt es, die diplomatischen Manöver des Herzogs - von der Aufrüstung des niedersächsischen Reichskreises über die Unterstützung Dänemarks bis zur Rückkehr unter schwedischem Schutz - differenziert darzustellen, ohne ihn vorschnell in die Kategorie des Opportunisten einzuordnen. Vielmehr wird sichtbar (gemacht), wie teils eingeschränkt, aber keineswegs bedeutungslos die Handlungsspielräume von Johann Albrecht im Reich waren. Auch hier erweist sich der Ambiguitätsbegriff als analytisch tragfähig.

Die Untersuchung macht deutlich, wie konkurrierende Normensysteme - religiös, politisch, sozial - insbesondere in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges in offenen Widerspruch zueinander traten und Akteure zu fortlaufenden Aushandlungen über Loyalität, Legitimität und Handlungsspielräume zwangen. Ein Beispiel dafür ist der Konflikt um das Bistum Ratzeburg, in dem die Konkurrenz zwischen Mecklenburg und Braunschweig-Lüneburg ebenso sichtbar werden konnte, wie die Spannung zwischen gemeinsamer Dynastiepolitik und partikularer Hausmachtstrategie. Auch die Auseinandersetzungen um das Schweriner Bistum, das im frühen 17. Jahrhundert zum Kristallisationspunkt dynastischer Machtpolitik wurde, oder die Rivalitäten zwischen dem Bremer Erzbischof und dem dänischen Königshaus verdeutlichen die prekäre Balance aus Verwandtschaft, Loyalität und Eigeninteresse in einer hochgradig verflochtenen politischen Landschaft. Letztlich führte das Ringen um Neutralität zu einem Vertrauensverlust auf beiden Seiten und offenbarte die Grenzen dynastischer Solidarität in einem zunehmend militarisierten Umfeld. Pell macht eine derartige Handlungsweise als typisch für kleinere und mittlere Reichsfürsten aus, die in einem Umfeld ohne neutrale Schiedsinstanz und unter dem Druck wechselnder Hegemonialmächte zwischen kurzfristiger Anpassung und langfristiger dynastischer Stabilität navigieren mussten. Johann Albrechts wechselnde Positionierungen offenbaren die strukturelle Ambivalenz politischer Entscheidungsfindung in einer Zeit tiefgreifender normativer Ungewissheit.

Die strukturelle Schwäche der mecklenburgischen Herrschaft und die Gefahr, die innenpolitische Kontrolle zu verlieren, verdeutlicht Pell im Verhältnis zu den Landständen, deren Mitspracherecht die außenpolitische Handlungsmacht erheblich einschränkte. Die kurzzeitige Verdrängung durch Wallenstein markiert in der Studie zudem einen Wendepunkt, der die fragile Autonomie des Fürstentums exemplarisch sichtbar macht. Johann Albrecht stand dabei - auch in seiner doppelten Rolle als Reichsfürst und Akteur sowie in seinem spanungsvollen Verhältnis zu Bruder, Untertanen, Konfession und Kaiser - für die Ambivalenz vormoderner Herrschaft, in der Anpassung, Abwägung und situatives Handeln zu zentralen Elementen politischer Praxis wurden.

Die statt einer klassischen Biografie vorgelegte analytische Tiefenbohrung in zentrale Handlungsfelder Johann Albrechts erweist sich als Stärke des Werks, weil so die Vielschichtigkeit vormoderner Herrschaft nicht in linearer Entwicklung, sondern in situativer Reaktion, Aushandlung und Anpassung sichtbar wird. Eine stärkere Kontextualisierung der mecklenburgischen Territorialgeschichte sowie ein Vergleich mit anderen Reichsfürsten (z.?B. aus Sachsen, Hessen oder dem Rhein-Main-Raum) wäre hilfreich gewesen, um die spezifische Position Johann Albrechts noch klarer herauszustellen.

Insgesamt stellt Pells Studie einen bedeutenden Beitrag zur Geschichte der Adels- und Fürstenherrschaft im 17. Jahrhundert dar. Sie verbindet dichte historische Analyse mit theoretischer Reflexion und öffnet neue Perspektiven auf das Regierungshandeln in einer Zeit tiefgreifender Unsicherheit. Für die weitere Erforschung frühneuzeitlicher Politik, dynastischer Verflechtungen und der Funktionsweise von Herrschaft im Alten Reich, insbesondere der Erforschung mittlerer Herzogtümer in der Zeit des Dreißigjährigen Kriegs, dürfte Pells Studie ein wichtiger Referenzpunkt werden.

Julia Eder