Anastasia Bakogianni / Luis Unceta Gómez (eds.): Classical Reception. New Challenges in a Changing World (= Trends in Classics- Pathways of Reception; Vol. 9), Berlin: De Gruyter 2024, XIV + 419 S., 21 Farb-, 10 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-077338-5, EUR 164,95
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Seit dem letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts sind Rezeptionsstudien immer deutlicher zum zentralen Bestandteil der Altertumswissenschaften geworden - während die Rezeption anderer Epochen wesentlich weniger erforscht und auch auf der Metaebene der Theorie weniger intensiv diskutiert wird. Ein Grund dafür ist eindeutig auch die Not der Rechtfertigung, die die Altertumswissenschaften seit einigen Jahrzehnten in einer Welt spüren, die zunehmend ihre Relevanz und Bedeutung in der heutigen Zeit aberkennt. Die Entstehung solcher Studien in unterschiedlichen akademischen Kulturen (in unterschiedlichen Fächern sowie in unterschiedlichen Ländern) hat dennoch auch eine Situation verursacht, in der verschiedene Begrifflichkeiten benutzt werden, ohne dass sie immer klaren Definitionen und Modellen entsprechen. In den neuesten Jahren ist daher das Bedürfnis zu spüren, dieses - wie die Herausgebenden dieses Bandes es definieren: "under-theorised field [...] mostly driven by case studies" (9) - theoretisch und methodologisch stärker aufzubauen. [1]
Der zu besprechende Sammelband formuliert auch diese zwei Ziele - eine Beschäftigung mit methodologischen und theoretischen Aspekten der Erforschung der Antikenrezeption sowie eine klare Diskussion der Relevanz der Antike und ihrer Rezeption vor den großen Herausforderungen unserer Zeit. Diese zwei Aspekte bilden die zwei Teile des Buchs, die der Einleitung der Herausgebenden folgen. Da es im Rahmen dieser kurzen Rezension unmöglich ist, alle Beiträge ausführlich zu besprechen, werde ich im Folgenden die Gesamtstruktur des Bandes vorstellen und einzelne Kapitel hervorheben.
Der Teil "Concepts, Methods, and Intersections in Classical Reception" besteht aus neun Kapiteln in drei Sektionen. Die erste Sektion, "Re-Thinking Classical Reception", beschäftigt sich mit der angesprochenen Metaebene der Antikenrezeption und generell mit der Rolle der Antike in unserer Kultur. In einem wichtigen Beitrag ("The Master's Tools? Towards a Politics of Reception"), hebt Jesse Weiner die Verbindungen zwischen den traditionellen Altertumswissenschaften ("Classics") und dem europäischen Kolonialismus und Imperialismus hervor und stellt eine sehr unbequeme Frage: "Is there something subversive and radical in adapting Greek and Latin literature to undermine and challenge Western imperialism, racism, mysogyny, and classism? Or are these receptions of the Western canon doomed to reinforce the very hierarchies of power they purport to challenge?" (27). Durch zwei Fallstudien schlägt Weiner vor, diese Frage nicht als "entweder/oder" zu verstehen, sondern eher beide Alternativen als immanent in der Antikerezeption zu sehen, um damit eine größere Aufmerksamkeit für den Wert, welcher der Antike in unserer und in anderen Gesellschaften zugeschrieben wird, zu erreichen. Im nächsten Kapitel, "Classics on the Surface: Classical Reception as an Emergent Process", betont Luis Unceta Gómez - der sich provokativ im Titel des Beitrags mit dem Begriff der "deep Classics" auseinandersetzt [2] -, dass Rezeptionsphänomene keinesfalls als "Schichten" zu verstehen sind, die sich auf einem "Kern" ursprünglicher Bedeutung aufbauen: Rezeption verorte sich auf der Oberfläche, und nicht in einem imaginierten "Nucleus".
Die Frage nach den Methodologien steht im Zentrum der zweiten Sektion, "Working with Archives": Die Erforschung der Antikenrezeption ist zuerst eine archivalische - dieser Aspekt, und die damit verbundenen Probleme der Arbeit mit Archiven, wird aber im Fach viel zu selten diskutiert. Die drei Beiträge dieser Sektion, die sich mit Aufführungen antiker Theaterwerke in Tschechien (Alena Sarkissian) und Griechenland (Gonda Van Steen) sowie mit den Vergleichen moderner Kinoschauspieler/innen mit antiken mythologischen Figuren (Michael Williams) beschäftigen, stellen interessante Fallstudien dar, welche eben die Problematik der Zugänglichkeit der Archive sowie der Erfassung großer Data Sets exemplarisch behandeln. In der dritten und letzten Sektion dieses ersten Teils, "Cultural Interactions", wird die transmediale und transkulturelle Natur der Antikenrezeption [3] betont und so die Notwendigkeit gezeigt, Rezeptionsprozesse als "Knotenpunkte" zu verstehen, in denen unterschiedliche Stränge zusammenkommen und sich gegenseitig beeinflussen. Konstantin Nikoloutsos zeigt so z.B. anhand von zwei Beispielen aus Mexiko und Brasilien, wie Parodien des Antikfilms in Lateinamerika als Teile eines kritischen Dialogs mit dem US-amerikanischen Kino und seiner Idealisierung der antiken Welt zu verstehen sind - etwas, das auch das Aussehen der Schauspielerinnen und ihr Auftreten prägt.
Im zweiten Teil des Bandes, "Classical Receptions in Response to Societal Challenges", wird dann gezeigt, wie antike Themen, Texte, Charaktere und Narrative ein zentrales Repertoire anbieten, das helfen kann, die aktuellen Herausforderungen zu verstehen, anzupacken, zu thematisieren und zu verarbeiten. In der vierten Sektion, "Forming and Re-Negotiating Identities", wird dies zuerst anhand der inzwischen etablierten Fragestellung nach dem Beitrag der Antike in der Identitätsstiftung gemacht - dennoch verbunden mit einem klaren Fokus auf Intersektionalität: Amanda Kubic etwa diskutiert die Rolle der Venus von Milo - die bekannterweise keine Arme hat - in der Diskussion der klassischen Schönheitsideale und in der Ermächtigung weiblicher, invalider Körper. Im nächsten Beitrag diskutieren T.H.M. Gellar-Good und Caitlin Hines, fast im Dialog mit dem Kapitel Weiners, die Lehrveranstaltungen "Classics beyond Whiteness" und "Ancient Worlds, Modern Crises", die an der Wake Forest University in North Carolina angeboten wurden, und wie in diesem pädagogischen Kontext die Arbeit an der Antike ermöglicht hat, sehr aktuelle Fragen, insbesondere in Bezug auf die "Black Lives Matter"-Bewegung, zu erörtern und neue Lösungsansätze zu formulieren.
Die fünfte Sektion, "Greek Tragedy in a Time of Pandemic" exploriert in einer originellen Weise innerhalb von zwei Kapiteln eine spezifischere Fallstudie: Wie Aufführungen von griechischen Tragödien im Moment der weltweiten Covid-19-Krise organisiert wurden und stattfanden (etwa über Zoom) und was antike Narrative (etwa, im Beitrag von Meryem Deniz, Antigone, die in einer Adaption 2022 als Krankenschwester an der Front der Bekämpfung der Pandemie gezeigt wurde) in solchen globalen Krisen anbieten können. In der letzten Sektion, "Engaging with Technology and the Wider Public", wird eine weitere globale und sehr aktuelle Herausforderung thematisiert: die stetige und rasante Entwicklung neuer Technologien und Kommunikationsformate - und die Notwendigkeit, sich ihnen anzupassen. Die zwei Beiträge dieser Sektion fokussieren sich auf die Antike in Videospielen und die Möglichkeit, moderne Animationen mit antiker Kunst zu realisieren, die in der Schuldidaktik eine wichtige Rolle beitragen können.
Insgesamt ist dieser ein Band, der ein sehr breites Spektrum an Themen, Fragen, Beispielen und Methoden erörtert und diskutiert. Besonders hervorzuheben ist die Aufmerksamkeit auch für pädagogische und didaktische Aspekte, die viel zu häufig vernachlässigt werden, auch aufgrund der immer geringeren Rolle der Antike in den Bildungsplänen weltweit. Es besteht kein Zweifel, dass einige Beiträge dieses Buchs in den kommenden Jahren wichtige Referenzpunkte für die Fortsetzung der Diskussion über Modelle, Theorien und Methoden der Antikenrezeption liefern werden. In diesem Sinne ist es insbesondere zu wünschen, dass die Fragen und die Lösungsansätze, die Jesse Weiner im ersten Kapitel formuliert, eine breite Aufmerksamkeit und eine intensive Reflexion hervorrufen.
Anmerkungen:
[1] Vgl. z.B. C. Gundermann et al.: Schlüsselbegriffe der Public History, Berlin 2021, 253-277.
[2] Siehe S. Butler (ed.): Deep Classics. Rethinking Classical Reception, London 2016.
[3] Zur Antikenrezeption als "transkultureller Dynamik", vgl. F. Carlà: Historische Quellen, literarische Erzählungen, phantasievolle Konstruktionen. Die vielen Leben der Theodora von Byzanz, in: J. Ernst / F. Freitag (Hgg.): Transkulturelle Dynamiken. Aktanten - Prozesse - Theorien, Bielefeld 2015, 31-62.
Filippo Carlà-Uhink