David Krych: Das Wiener Hetzamphitheater (1755-1796). Ein Theater im Hinterhof der moralischen Anstalt, Wien: Böhlau 2024, 496 S., 37 s/w-Abb., ISBN 978-3-205-22014-5, EUR 65,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Das Buch von David Krych, das auf der 2016 an der Universität Wien approbierten Dissertation des Autors basiert, beschäftigt sich mit einem von den Theater- und Kulturwissenschaften kaum behandelten Thema - dem Wiener Hetzamphitheater in der Weißgerbervorstadt (heute 3. Wiener Gemeindebezirk), das von 1755 bis 1796 mit einer Kapazität von bis zu 3000 Zuschauern das größte Theater Wiens war.
In einer knappen Einleitung umreißt Krych seinen Gegenstand und verweist auf die Tatsache, dass die Tierhetzen in der bisherigen Forschungsliteratur meist nur "als historische Kuriositäten" und "Einzelphänomene" (7) betrachtet wurden, ohne sie zu kontextualisieren. Diesen "konkreten kultur- und geistesgeschichtlichen Zusammenhang" (12) herzustellen, ist das zentrale Anliegen des Autors. Er stellt die Tierhetzen jedoch nicht nur in einen historischen, sondern auch in einen theoretischen Kontext und setzt sich mit verschiedenen Konzepten aus Theaterwissenschaft, Mediengeschichte und Kultursoziologie auseinander.
Im zweiten Kapitel geht es um das Verhältnis von Theaterpraktiken und Theaterbegriffen. Krych schließt dabei an das von Rudolf Münz erarbeitete "Konzept des Theatralitätsgefüges" an [1], ein "grundlegendes Kontextualisierungsmodell" (13), um sich historischen Theaterphänomenen anzunähern. Davon ausgehend präsentiert Krych vier verschiedene Positionen zum Theater der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts: einen weit gefassten Theaterbegriff mit Theater, Jagd und Kampfspiel als "Ergötzlichkeiten"; eine ambivalente Haltung mit den kritischen, ja theaterfeindlichen Äußerungen des Freimaurers Aloys Blumauer; Theater und Lachen als Mittel "zur geistigen Erholung, zu einem sorgenlosen Zeitvertreib" (33) am Beispiel des Kasperl-Darstellers Johann Joseph La Roche; und schließlich den exklusiven, moralisch-bildungspolitischen Theaterbegriff des aufklärerischen Theaterreformers Joseph von Sonnenfels.
Im zentralen dritten Kapitel wendet sich Krych konkret dem Wiener Hetzamphitheater und den Hetzzetteln zu. Er geht von Überlegungen zum Ursprung der Hetzpraktiken aus, der einerseits bei adelig-höfischen Festivitäten und Jagdpraktiken (wie dem Fuchsprellen), andererseits bei populären karnevalesken Formen (wie den Ochsenhetzen) zu suchen ist. Die Tierhetzen waren ein europäisches Phänomen, wie Krych an einigen Beispielen zeigt ("Ochsenhatz" in Venedig, Hetzamphitheater in Regensburg, "bull-and bear-baiting-arena" in London sowie Stierkampf in Spanien). Er betont die strukturellen Ähnlichkeiten mit dem Wiener Hetzamphitheater durch die Verbindung von Tierkampf, tänzerisch-komödiantischen Einlagen und pyrotechnischen Darbietungen.
Die Wiener Tierhetzen fanden nur an Sonn- und Feiertagen statt, während an den anderen Wochentagen im Rahmen von Gastspielen verschiedene andere Theaterformen dargeboten wurden, die man heute als Jahrmarktskünste bezeichnen würde (Akrobatik, Seiltanz, Pferdedressuren, pantomimische, physikalische oder pyrotechnische Vorführungen).
Bei seiner eingehenden Analyse der Tierhetzen als performative Kulturpraktiken stützt sich Krych auf zahlreiche zeitgenössische Quellen, auf Zeitungsartikel, Reisebeschreibungen und Memoiren, vor allem aber auf die Ankündigungszettel, die sogenannten "Hetzzettel", die im Zentrum der Studie stehen. Krych hat ein Konvolut von 104 Zetteln zusammengetragen, transkribiert, auf Inhalt, Sprache und formale Gestaltung untersucht und im umfangreichen Anhang seines Buches (175-470) ediert.
An einem konkreten Beispiel, dem "herrlichen Thierkampf" vom 13. April 1793, analysiert Krych nicht nur die Praktiken der Bewerbung der Veranstaltungen durch die "Hetzzettel", sondern auch die aufführungsspezifischen Aspekte des Wiener Hetzamphitheaters. Die Veranstaltungen waren dramaturgisch aufgebaut, mit einem klaren Spannungsbogen, der sich an bestimmten Nummern orientierte. Während sich die tatsächliche Abfolge der Kämpfe nur wenig änderte, wurden die zur Werbung dienenden "Hetzzettel" immer wieder neu gestaltet, um dem Publikum Abwechslung zu bieten. Schon von den Zeitgenossen wurden sie als eine spezifische Textgattung angesehen, die sich durch bestimmte sprachliche und visuelle Gestaltungselemente auszeichnete. Es entwickelte sich eine eigene "Hetzsprache", die von metaphorischen und satirischen Wendungen sowie Doppeldeutigkeiten geprägt war.
Auf der Basis seiner intensiven Auseinandersetzung mit den "Hetzzetteln" entwickelt Krych mehrere Themenkomplexe, die er im vierten Kapitel behandelt. Er weist die Übernahme von Stoffen aus anderen Theaterformen (wie der Oper) im Hetzamphitheater nach, aber auch umgekehrt die Übernahme von Hetztheater-Stoffen in Theaterformen mit menschlichen Akteuren. Darüber hinaus analysiert Krych exemplarisch den tödlichen Kampf zwischen Hunden und einem Ochsen und weist mit dem Ochsen als "Sündenbock" Spuren des Karnevalesken nach. Besonders interessant erscheint der Nachweis, dass die angekündigten Tiere häufig mit nationalen Zugehörigkeiten ausgestattet wurden und das Hetzamphitheater aktuelle politisch-militärische Ereignisse mit tierischen Akteuren verhandelte. Schließlich widmet Krych ein eigenes Kapitel den Frauen im Publikum des Hetzamphitheaters und setzt dieses Thema mit dem damaligen Diskurs über Frauenrechte in Beziehung.
Krych schließt sein Buch mit einem Ausblick auf das 19. Jahrhundert, in dem sich das Tier-Mensch-Verhältnis auch innerhalb der theatralen Praktiken wandelte. Anhand konkreter Beispiele demonstriert er die Veränderung der Perspektive von brutaler Gewalt über die Tiere in den frühen Hetzen auf ihre disziplinierende Inszenierung im 19. Jahrhundert. Das Hetzamphitheater wurde nach seinem Brand im Jahre 1796 zwar nicht mehr aufgebaut, fand aber in anderen theatralen Praktiken (wie Affen- und Maschinentheater, Circus gymnasticus) eine Fortsetzung und stellt somit laut Krych "eine Übergangsform [...] von der Frühen Neuzeit zum bürgerlich, kapitalistisch und industriell geprägten 19. Jahrhundert" (173) dar.
Krych gelingt es in seiner Abhandlung überzeugend, neue Perspektiven auf die im 18. Jahrhundert überaus beliebte, aber weitgehend in Vergessenheit geratene Kulturpraxis der inszenierten Tierkämpfe zu eröffnen, indem er sie in größere gesellschaftliche und kulturelle Zusammenhänge einbettet. Seine Studie zeichnet sich nicht nur durch große Materialfülle (vor allem das umfangreiche Konvolut der sorgfältig edierten "Hetzzettel"), sondern auch theoretische Fundierung aus, und ist durch die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Tier und Mensch im Rahmen der Diskussionen um Tierschutz und Tierwohl auch von aktueller Relevanz.
Anmerkung:
[1] Rudolf Münz: Theatralität und Theater. Konzeptionelle Erwägungen zum Forschungsprojekt
Andrea Sommer-Mathis