Rezension über:

Simona Boscani Leoni / Claire Gantet / André Holenstein et al. (éds.): Le Corps helvétique et la France (1660-1792). Transferts, asymétries et interdépendances entre des partenaires inégaux (= Travaux sur la Suisse des Lumières; Vol. 23), Genève: Éditions Slatkine 2024, 394 S., ISBN 978-2-05-102944-5, CHF 48,00
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Rezension von:
Guido Braun
Département d'histoire, Université de Haute-Alsace, Mulhouse
Redaktionelle Betreuung:
Bettina Braun
Empfohlene Zitierweise:
Guido Braun: Rezension von: Simona Boscani Leoni / Claire Gantet / André Holenstein et al. (éds.): Le Corps helvétique et la France (1660-1792). Transferts, asymétries et interdépendances entre des partenaires inégaux, Genève: Éditions Slatkine 2024, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 12 [15.12.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/12/39549.html


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Simona Boscani Leoni / Claire Gantet / André Holenstein et al. (éds.): Le Corps helvétique et la France (1660-1792)

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Das Königreich Frankreich und das Corpus helveticum pflegten vom 16. Jahrhundert bis zum Ende der französischen Monarchie 1792 sehr enge und zugleich wechselhafte Beziehungen auf politischer, sozialer und wirtschaftlicher Ebene. Umso bemerkenswerter ist die Tatsache, dass - abgesehen von Einzelstudien - eine Synthese dieser komplexen Beziehungsgeschichte bislang fehlte. Zumindest in Form eines relativ kohärenten Sammelbandes wird dieses Forschungsdesiderat nun für den Zeitraum vom 17. bis zum 18. Jahrhundert eingelöst. Im Mittelpunkt steht die Zeit vom Beginn der persönlichen Regierung Ludwigs XIV. 1660/1661, unter dessen Herrschaft das dynamisch expandierende und konfessionspolitisch zunehmend intransigente Frankreich zum unmittelbaren Nachbarn des mehrkonfessionellen Corpus helveticum wurde, bis zur revolutionären Zäsur von 1792, als Frankreich von der Monarchie zur Republik mutierte und damit die Sonderstellung der Schweizer in Diensten des Königs endete.

Der in der Schriftenreihe der Schweizerischen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts publizierte Band geht auf eine im April 2022 von ihr auf Schloss Waldegg im Kanton Solothurn veranstaltete Tagung zurück. Nebst Vorwort und Einleitung umfasst er 19 Beiträge hauptsächlich in der Schweiz, aber auch in Frankreich und Deutschland tätiger Forscherinnen und Forscher. Weit über den Anspruch an einen "Avant-propos" hinausgehend, liefert Claire Gantet in ihrem profunden französischsprachigen Vorwort kritische methodische Überlegungen zur Anwendung des Konzepts "Kulturtransfer" (transfert culturel) oder alternativer Forschungskonzepte wie "Zirkulation" (circulation) und (ein multipolar verstandener) "Gallotropismus" (gallotropisme) auf die Untersuchungsgegenstände des Sammelbandes. André Holensteins deutschsprachige Einleitung bietet einen detaillierteren Überblick über die thematische Konzeption des Bandes und den einschlägigen Forschungsstand.

Die sieben deutsch- und zwölf französischsprachigen Aufsätze sind auf fünf Themenblöcke verteilt. Die erste Sektion widmet sich unter dem Titel "Im Dienst des Königs von Frankreich" eidgenössischen Männern und Frauen in französischen Diensten sowie den französischen Diplomaten bei den Eidgenossen. Dabei werden in fünf Beiträgen (von Andreas Affolter, Julien Grand, Katrin Keller, Danièle Tosato-Rigo und Andreas Würgler) neben den diplomatischen insbesondere die militärischen und wirtschaftlichen Beziehungen fokussiert. Die Rolle von Frauen auf dem politisch-diplomatischen Handlungsfeld wird besonders an dem im doppelten Sinne geschlechtergeschichtlich hochinteressanten Beispiel der in ihrer Heimat wegen Spionage angeklagten Berner Patrizierin Katharina Franziska von Wattenwyl-Perregaux demonstriert, die eng mit der Berner Oberschicht verflochten war.

Gleitend gestaltet sich der Übergang zur zweiten Sektion, die unter dem Titel "Armeen, Konfessionen, Schutzverhältnisse" steht, denn am Anfang dieser Sektion wird mit den (nur unter zahlreichen Bedingungen und Einschränkungen geduldeten) schweizerischen Protestanten im französischen Militärdienst wiederum eine für den König von Frankreich tätige Akteursgruppe in den Blick genommen. Mit dem 1703-1704 ventilierten Projekt der savoyischen Neutralität, transnationalen Wallfahrten im ostfranzösisch-schweizerischen Raum, bei denen Grenzüberschreitungs-Erfahrungen kaum eine Rolle spielten, und dem schweizerischen und französischen Pietismus werden in den vier Aufsätzen dieser Sektion (von Kilian Harrer, Yves Krumenacker, Alexandre Ruelle und Paul Vo-Ha) letztlich sehr unterschiedliche Themenfelder behandelt.

Die dritte Sektion wendet sich dem wissenschaftlichen Austausch und den Handelsbeziehungen unter dem Schlagwort der "Netzwerke" zu. Neben Lyon als Zentrum des schweizerisch-französischen Handels zwischen den 1660er und den 1740er Jahren (und einer entsprechend reichhaltigen Geschenkkultur in den daraus erwachsenden Kontakten, besonders der Lobbyarbeit der schweizerischen Kaufleute) sowie der Rolle des helvetisch-reformierten Händlernetzes im französischen Sklavenhandel des 18. Jahrhunderts werden in den betreffenden vier Beiträgen (von David Aeby / Lukas Heinzmann / Martin Stuber, Dorothée Lanno, Magnus Ressel / Torsten dos Santos Arnold und Marco Schnyder) Künstler- und Gelehrten-Netzwerke untersucht. Erstere werden am Beispiel des (nach langjährigem Paris-Aufenthalt seit 1773 wieder in der Schweiz wirkenden) Berner Malers Sigmund Freudenberger analysiert, Letztere an demjenigen des Arztes, Botanikers und Schriftstellers Albrecht von Haller, dessen Korrespondenznetz nachweislich etwa 1.200 Personen umfasste und sich in mindestens 13.300 Briefen aus 500 verschiedenen Orten niederschlug.

Mit intellektuellen Bestrebungen gegenseitiger Abgrenzung im Kontext "Proto-nationale[r] Gefühle" befassen sich die drei Aufsätze der vierten Sektion (von André Holenstein, Helder Mendes Baiao und Sarah Rindlisbacher Thomi). Neben Frankreichkritik aus der Feder von Züricher Stadtgeistlichen und in der Schweizer Reformaufklärung steht dabei wiederum das Schweizer Söldnertum im Fokus, diesmal im Kontext von Orient und Kolonialismus.

In der abschließenden fünften Sektion widmen sich drei Beiträge (von François Cojonnex/Isabelle Roland, Timothée Léchot und Hans-Jürgen Lüsebrink) der Zirkulation von "Texte[n] und künstlerische[n] Modelle[n]". Dabei werden sowohl Schlossarchitektur (am Beispiel des Château de l'Isle im Kanton Vaud, 1694-1698) als auch Transfers und Adaptionen journalistischer Modelle (anhand der reziproken Austauschprozesse zwischen dem Mercure de France und dem Mercure suisse) einbezogen und schließlich ein Blick auf die Darstellung der schweizerischen Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur in französischen Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts geworfen.

Das Buch wird durch englischsprachige Zusammenfassungen aller Beiträge für die internationale Forschung besser erschlossen und durch ein Autorenverzeichnis sowie ein Personenregister nebst einem Ortsregister abgerundet.

Bemerkenswert sind die interdisziplinäre Konzeption und die inhaltliche Breite des Bandes, die von der Militär-, Diplomatie-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte bis hin zur Literatur-, Kunst- und Architekturgeschichte reicht. Neben der inhaltlichen Qualität der allermeisten Beiträge ist auch die weitgehend ausgeglichene Vertretung von Forscherinnen und Forschern sowie von jüngeren und erfahreneren Beitragenden, ferner von Forschungsarbeiten von unterschiedlichen Dimensionen und in unterschiedlichen Entwicklungsstadien hervorzuheben, sodass neben der Präsentation profunder Resultate weitgehend abgeschlossener Forschungsvorhaben Einblicke in laufende Projekte innovative Forschungsperspektiven aufzuzeigen vermögen.

Trotz des positiven Gesamtbildes wirkt die Einteilung in Sektionen jedoch bisweilen unpassend. Auch erfüllen nicht alle Beiträge die gestellten qualitativen Ansprüche gleichermaßen. So stellt der Aufsatz zu Albrecht von Haller eher eine Aneinanderreihung der Resultate serieller Quellenauswertung als eine abgerundete, inhaltlich stringente Darstellung dar; auch sprachlich-formal erreicht er nicht das Niveau der meisten anderen Beiträge, zudem wirken die schwarz-weiß abgedruckten Grafiken mit ihren optisch kaum auseinanderzuhaltenden Graustufen unübersichtlich. Gleichwohl werden in diesem Beitrag durchaus sehr interessante Einzelbeobachtungen gemacht, zu denen insbesondere die multilaterale räumliche Dimension der analysierten Gelehrtennetzwerke zählt, die weit über bilaterale Austauschprozesse hinaus auf eine europäische Zirkulationsebene verweist.

Zusammenfassend betrachtet, gelingt es den Autorinnen und Autoren, beziehungs- sowie transfer- / zirkulationsgeschichtlich einen wesentlichen Beitrag zu dem eingangs von Claire Gantet formulierten Desiderat der systematischen Erforschung der wechselseitigen französisch-schweizerischen materiellen, kulturellen und symbolischen Abhängigkeitsverhältnisse zu leisten. Dabei werden bisherige Forschungsergebnisse prägnant gebündelt, die gerade in den letzten beiden Jahrzehnten in einer ganzen Reihe von innovativen Einzelstudien generiert wurden, und Forschungsperspektiven aufgezeigt. Letztere lassen sich etwa im Hinblick auf Frauen als Akteurinnen in den schweizerisch-französischen Beziehungen auf verschiedenen Handlungsfeldern von der Diplomatie über die Architektur (zum Beispiel Catherine de Chandieus Rolle bei der Planung des Château de L'Isle) bis zur Wirtschaft und zum konfessionellen Ideentransfer (Beispiel Marie Huber für den Pietismus) ausmachen.

Die Beziehungen und Verflechtungen zwischen dem als politisch-militärische Führungsmacht sowie dem als ökonomisch-finanzpolitischer Magnet auftretenden und kulturell als Vorbild in Europa geltenden Frankreich einerseits und dem polyzentrischen Corps helvétique andererseits zeigen sich trotz ihrer Wechselseitigkeit insgesamt als asymmetrisch, was phasenweise bis zu "eine[r] protektoratsähnliche[n] Abhängigkeit" der Schweiz (André Holenstein, 36) reichen konnte. Dabei waren sie jedoch multipolar, komplex, teils sogar symbiotisch und zugleich konfliktbeladen, wie dieser verdienstvolle Band eindrucksvoll demonstriert.

Guido Braun