Nadine Recktenwald: Räume der Obdachlosen. Urbane Erfahrungen zwischen Fürsorge und Repression, 1924-1974 (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; Bd. 141), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2023, 379 S., 26 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-108622-4, EUR 59,95
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Obdachlosigkeit stellt eine der größten gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit dar; für viele ist sie sogar die soziale Frage des frühen 21. Jahrhunderts. Nadine Recktenwalds Monografie bietet eine exzellente historische Einordung, wie Menschen unter drei unterschiedlichen politischen Systemen - der Weimarer Republik, dem Nationalsozialismus und der jungen Bundesrepublik - versuchen ihr Leben nach dem Verlust ihrer Wohnung zu bewältigten und wie Staat und Gesellschaft zwischen 1924 und 1974 auf Obdachlosigkeit bzw. obdachlose Menschen reagierten. Aber nicht nur für Historikerinnen und Historiker ist ihr Buch von Bedeutung. Auf der Basis reichhaltigen empirischen Materials - unter anderem Archivgut der Akteure der Obdachlosenbetreuung und kommunalen Verwaltungen (Berichte, Belegungslisten, Protokolle, Beschwerdebriefe und Bittgesuche von obdachlosen Personen), Überlieferungen von Polizei und Justiz (Vernehmungsprotokolle, Anordnungen, Strafakten, Aussagen vor Gericht) und zeitgenössische Berichterstattung (Zeitungsausschnitte, Bildmaterial) - bietet die Autorin wertvolle analytische Reflexionen und stichhaltige Argumente darüber, woher zeitgemäße Deutungen und Praktiken stammen und wie diese weiterhin gesellschaftliche Reaktionen und staatliches Handeln prägen. Damit wird das Buch zu einer wichtigen Lektüre für alle, die sich mit dem Thema Obdachlosigkeit näher beschäftigen wollen.
Das fast 400-Seiten starke Werk ist in drei Hauptkapitel unterteilt, in welchem die Erfahrungs- und Handlungsräume obdachloser Menschen untersucht werden. Zudem runden eine eingängig verfasste und exzellent durchdachte, stark von den Überlegungen der Raumsoziologie geprägte Einleitung und ein (überraschend kurzes) Fazit das Buch ab. Der Raum der Straße steht im Zentrum des ersten Kapitels. Nach einer Erklärung der Entstehung und Entwicklung des Massenphänomens Obdachlosigkeit im 19. Jahrhundert, folgt eine sehr spannende Betrachtung der "dunklen Winkel" in welche obdachlose Menschen genötigt wurden zu leben. Besonders eindrucksvoll ist Recktenwalds Analyse obdachloser Frauen, die - entgegen der gängigen Interpretation der Dominanz männlicher Obdachlosigkeit - in großer Zahl existierten. Während obdachlose Männer oft als "arbeitsscheu" und "kriminell" galten, wurden Frauen nicht nur als besonders gefährdet, sondern auch als gefährdend betrachtet. Obdachlose Frauen gerieten rasch in den Verruf "ehrbare" Männer vom rechten Weg abzubringen und wurden als mutmaßliche Trägerinnen von Geschlechtskrankheiten zu einer "Staatsgefahr der ersten Ordnung". Des Weiteren widmet sich die Autorin dem öffentlichen Raum - Parkanlagen, Plätzen, Brücken und Einkaufspassagen - und macht deutlich, wie temporäre Räume zum Verweilen rasch zu Orten von Repression, Vertreibung und Kriminalisierung wurden. Ein letztes Unterkapitel zum Bahnhof bzw. der Bahnhofsmission runden den Abschnitt zum Raum der Straße ab. Auch hier ist das zentrale Thema das Spannungsfeld des Bahnhofquartiers als Schutz- und Kontrollort. Denn einerseits waren Bahnhöfe ein Ort, der vor Wind und Wetter schützt, ein Ort, an dem man Leidensgenossinnen und -genossen treffen konnte, oder ein Ort, an dem man sich durch Prostitution oder auf dem Schwarzmarkt etwas Geld verdienen konnte. Anderseits versuchten Bahnhofsbetreiber die (nächtliche) Zugänglichkeit zu beschränken, während die Militärpolizei gemeinsam mit örtlichen Kriminalabteilungen Razzien durchführte. Homosexuelle Handlungen, Ausweislosigkeit oder Landstreicherei aber auch das Überleben sichernde Kleinkriminalität oder Prostitution konnten zur Strafanzeige und einer Haftstrafe führen.
Im zweiten Kapitel geht es um den Raum des Amtes, wobei neben dem Sozialamt auch Polizei und Gerichte zentrale Untersuchungsgegenstände bilden. In diesem Kapitel wird die Vulnerabilität obdachloser Personen besonders deutlich. Denn obgleich die Obdachlosenfürsorge bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstand, war diese seit Beginn geprägt von Verhaltenskontrollen und Disziplinierung, Ausschließung oder Entmündigung durch arbiträre Kategorisierungen (beispielsweise als "asozial") bis hin zu Kriminalisierung und Inhaftierung. Eingängig werden auch die bis heute noch geltenden Probleme der unklaren behördlichen Zuständigkeiten bei komplexen Problemlagen beschrieben.
Im dritten Kapitel folgt der Raum Obdach, der sowohl das Obdachlosenasyl umfasst, wie auch sozialplanerische Obdachlosensiedlungen, die Nutzung von Bunkern und zuletzt wilde Siedlungen, als Ausdrucksform eines selbstbestimmten Lebens. Besonders eingängig wird die Entwicklung des Obdachlosenasyls beschrieben, welche trotz ihres Anspruchs als Schutzorte rasch zu Orten der Entwürdigung (beispielsweise durch eine laienhafte Untersuchung der Geschlechtsorgane) bis hin zur Misshandlung (Zwangssterilisation unter der NSDAP-Herrschaft) werden konnten.
Jedes Hauptkapitel sowie die teils sehr detailliert untergliederten Unterkapitel erfassen den gesamten Zeitraum von 1924 bis 1974. Sie zeichnen - je nach Quellenlage - mehr oder weniger ausführlich und in chronologischer Abfolge die Besonderheiten des jeweiligen politischen Systems nach. Diese Vorgehensweise ist zwar nachvollziehbar, erschwert jedoch in der Gesamtschau das Erkennen der spezifischen Charakteristika einzelner Epochen sowie die Einordnung historischer Kontinuitäten und Brüche. Wünschenswert wäre daher am Ende eines jeden Hauptkapitels ein Zwischenfazit gewesen, in dem die Autorin eine analytische Reflexion vornimmt, die Befunde mit dem in der Einleitung entwickelten theoretischen Rahmen verknüpft und gezielt auf Kontinuitäten und Wandel in Erfahrungs- und Handlungsräumen sowie in institutionellen Regeln und Praktiken eingeht.
Insgesamt ist festzuhalten, dass das Werk einen äußerst lesenswerten Beitrag darstellt, der auf eindrucksvolle und reflektierte Weise die Lebenswelten obdachloser Menschen sowie die Praktiken des Hilfesystems, der Polizei und der Justiz rekonstruiert. Die Autorin arbeitet dabei äußerst systematisch und konsequent die Ambivalenzen zwischen Fürsorge und Repression heraus, die - wenn auch in abgeschwächter Form - bis heute das Feld der Obdachlosenhilfe prägen. Denn auch im Jahre 2025 finden sich obdachlose Personen weiterhin "auf der untersten Stufe kommunaler Hilfe" (340), wie sich an den vielerorts "nicht menschenrechtskonformen" Notunterkünften [1] festmachen lässt, die von obdachlosen Menschen eher gemieden und nicht als ein Schutzraum wahrgenommen werden. [2] In der Kritik stehen dabei aber nicht nur die (baulichen) Zustände und die mangelnde Privatsphäre durch Gemeinschaftszimmer und geteilte Bäder, sondern auch und gerade die fehlende Sensibilität, Notunterkünfte trauma- und geschlechtssensibel zu gestalten, die stark reglementierenden Hausordnungen und Praktiken der schlecht ausgebildeten Security. [3] Eine historische Kontinuität ist klar erkennbar. Leider.
Anmerkungen:
[1] Claudia Engelmann: Notunterkünfte für Wohnungslose menschenrechtskonform gestalten. Leitlinien für Mindeststandards in der ordnungsrechtlichen Unterbringung, Berlin 2022, 13.
[2] Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen: Wohnungslosenbericht der Bundesregierung. Ausmaß und Struktur von Wohnungslosigkeit, Berlin 2024, 39.
[3] J. Timo Weishaupt: Weiblich, wohnungslos, schutzlos? Eine kritische Perspektive auf die sozialstaatliche Absicherung von Frauen in Wohnungslosigkeit, in: Zeitschrift für Sozialreform 137/3-4 (2025); https://doi.org/doi:10.1515/zsr-2024-0028
J. Timo Weishaupt