Ulrich Andermann: Clamor Huchzermeyer. Ein Landpfarrer, Politiker und Superintendent im Rahmen der Minden-Ravensberger Erweckungsbewegung (= Sonderveröffentlichungen des Historischen Vereins für die Grafschaft Ravensberg e. V.; 29), Münster: Aschendorff 2025, 216 S., 36 s/w-Abb., ISBN 978-3-402-25202-4, EUR 28,00
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Überregional ist Clamor Huchzermeyer vor allem durch seine Mitgliedschaft in der Preußischen Nationalversammlung 1848/49 bekannt geworden. Eine ausführliche Biografie, die ihn in all seinen Aktionsfeldern würdigte, fehlte bisher. Diese zu schreiben zur Aufgabe gemacht hat sich Ulrich Andermann, der bereits Huchzermeyers Nachlass im Stadtarchiv Bielefeld und seine Chronik der Kirchengemeinde Schildesche ediert hat.
Huchzermeyers Lebensweg begann im Kreis Lübbecke als Sohn eines Rentmeisters. Aus ländlicher Umgebung kam er zu den Gymnasien in Osnabrück und Bielefeld. Nach einem Studium der Theologie in Berlin erhielt er 1840 nach einer Wartezeit als Privatlehrer eine Stellung als Hilfsprediger in Schildesche bei Bielefeld. Hier erlebte er bis 1850 ein turbulentes Jahrzehnt. In der Nachfolge des Pietismus des späten 18. Jahrhunderts widersprach er rationalistischen Strömungen, wie sie die 'Lichtfreunde' vertraten. Das schlug sich auch in einem fortdauernden Streit um den Inhalt der Gesangbücher nieder. Im Kampf gegen Alkoholmissbrauch und im Einsatz für Mäßigungsvereine wirkte Huchzermeyer u.a. als Wanderprediger. In der Krise des ravensbergischen Leinengewerbes trat er als Gegner von Spinnmaschinen auf. Beides machte ihn bekannt und erklärt seine vermeintlich spontane Wahl zum Abgeordneten des Landkreises Bielefeld in der Berliner Nationalversammlung 1848. Huchzermeyer setzte sich gegen Konstitutionelle und Linksliberale durch und zeigte sich in Berlin als entschiedener Parteigänger der Monarchie. Noch in die 1840er Jahre fällt die Nähe zur Erweckungsbewegung. Er war darin tätig als 'Agent für die Verbreitung von Erweckungsliteratur' und förderte die Innere Mission. Seine endgültige Berufung zum Gemeindepfarrer in Schildesche 1850 bedeutete eine Zäsur, denn von nun an trat er offiziell im Rahmen der Kirchenprovinz Westfalen auf. Deren Besonderheit einer presbyterisch-synodalen Grundordnung erklärt Andermann vorab. Drei Ebenen stellt er heraus: die Kirchengemeinde, den Kirchenkreis ("Diöcese"), deren Superintendent Huchzermeyer von 1872 bis 1894 war, und das Wirken auf Ebene der Provinz und Gesamtpreußens. In der eigenen Gemeinde hat Huchzermeyer zahlreiche Spuren hinterlassen, in Vereinen, in Schulen und in der Armenfürsorge. In Bethel traf er auf Friedrich von Bodelschwingh, den er beim Aufbau der Pflegeanstalt unterstützte. Als durch die Kreissynode gewählter Superintendent institutionalisierte er die Innere Mission weiter und sah sich nach 1873 durch den Kulturkampf herausgefordert. Er opponierte der preußischen Schulpolitik, die den Kirchengemeinden Einfluss zu nehmen drohte, und der Zivilstandsgesetzgebung, die er nicht verhindern konnte. Politisch ist Huchzermeyer als Gegner der Sozialdemokratie zu verorten, der seit 1881 Adolf Stoeckers Christlich-Sozialer Partei nahestand. Angesichts von Stoeckers Antisemitismus wirft Andermann die Frage auf, wie sich Huchzermeyer zur Judenemanzipation verhielt (134-142). Er lehnte sie ab, war aber nicht bereit zu radikaler Agitation.
Andermann fasst seine Beobachtungen in einem klugen Resümee zusammen. Er würdigt die Vielfalt der Aktivitäten Huchzermeyer, vor allem im kirchlichen Bereich. An der gegen die Liberalen gerichteten promonarchischen Grundhaltung lässt er keinen Zweifel. Das Ende des Vorrangs der kirchlichen Trauungen 1875 muss ihn in einen tiefen Konflikt gestürzt haben, weil der Staat, den er stützte, gegen 'seine' Kirche vorging. Gerne hätte man hierzu mehr aus seiner eigenen Sicht erfahren. Die erhaltenen Dokumente geben dies aber nicht her. Andermann wertet sie solide aus, bettet sie aber nicht immer in allgemeinere Kontexte ein. Dass der von Bismarck angezettelte Kulturkampf nicht nur Katholiken, sondern auch Protestanten betraf, hätte durchaus intensiver behandelt werden können. Das gilt auch für Huchzermeyers Zeit in der Preußischen Nationalversammlung. Andermann erwähnt den tiefen Stadt-Land-Gegensatz im Landkreis Bielefeld, der bis weit in das Kaiserreich hinein bei Wahlen für Niederlagen der liberalen Kräfte in der Stadt sorgte. Daran, dass Huchzermeyer indirekt oder direkt Anteil hatte, besteht nach Andermanns Buch kein Zweifel.
Wilfried Reininghaus