Rezension über:

Stephen E. Kidd: Lucian on Reading, Performing, and the Difference. Living Life as Fiction, London / New York: Routledge 2025, IX + 195 S., ISBN 978-1-032-93649-9, GBP 116,00
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Rezension von:
Heinz-Günther Nesselrath
Seminar für Klassische Philologie, Georg-August-Universität, Göttingen
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Heinz-Günther Nesselrath: Rezension von: Stephen E. Kidd: Lucian on Reading, Performing, and the Difference. Living Life as Fiction, London / New York: Routledge 2025, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 11 [15.11.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/11/40444.html


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Stephen E. Kidd: Lucian on Reading, Performing, and the Difference

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Auf dem Vorsatzblatt (I) formuliert Kidd als Leitfrage: "what happens when we are not performing? When we read or sit in the audience, we cannot perform for the world we are viewing [...] Is there anything left of us at such moments?" Er möchte dies an einigen Werken Lukians untersuchen.

Die "Introduction" (1-21) thematisiert die Möglichkeit oder Unmöglichkeit, etwas über Lukians Leben zu erfahren. Hier wird zunächst die bekannte - von Forscherinnen und Forschern wie Daniel Richter, Nathaniel Andrade, Emily Rush, Karen nÍ Mheallaigh, Tim Whitmarsh vertretene - Meinung referiert, dass Lukian in seinem Werk so viele verschiedene personae/Masken annimmt, dass sich über ihn selber nichts Verlässliches aussagen lässt (4-8), danach Roland Barthes' These vom "Tod des Autors" und Paul Ricoeurs "Hermeneutik des Verdachts" (8-10). Dem allen setzt Kidd nun eine Herangehensweise entgegen, in der er Lukian nicht als - für die Zweite Sophistik typischen - "performer", sondern als "reader" und "viewer" betrachten möchte (11). Er weist richtig darauf hin, dass mehrere Lukian-Schriften solche "Betrachter" ins Zentrum ihrer Texte stellen, und diese Schriften stellen dann auch den Gegenstand mehrerer folgender Kapitel dar. Kidd äußert sogar den bemerkenswerten Gedanken, dass wir im "reader" Lukian (denn als Autor war er auch sein erster "reader") vielleicht den "wahren" Lukian entdecken können (15).

Das erste anschließende Kapitel ist dem Dialog Hermotimus gewidmet (22-46). Nach einem Inhaltsüberblick (23-27) bespricht Kidd den (hohen) Anteil von Argumenten der skeptischen Philosophie am Inhalt des Dialogs (27-30). Im Zentrum des Kapitels steht die Frage, ob die Position von Lukians Alter Ego Lykinos - Zueigen-Machung skeptischer Argumente, aber dennoch Befürwortung eines aktiven, auf moralischen Axiomen aufgebauten Lebens - inkonsistent ist, und verneint dies unter der Voraussetzung, dass Lykinos' Haltung auf Wahrscheinlichkeiten (nicht Dogmen) gründet (34-36). In seinen "Conclusions" stellt Kidd dann aber erneut den aufgrund seiner tiefgreifenden Skepsis zum Handeln in der Welt unfähigen Skeptiker heraus: "Like a spectator motionless in the theater, all that's left to do is watch" (40) - aber gerade solch ein passiver Zuschauer ist Lykinos nicht, denn er bringt Hermotimos doch von seinem dogmatischen Stoizismus ab?!

Das zweite Kapitel (47-67) wendet sich den Zuschauerfiguren in den Dialogen Charon und Icaromenippus, also Charon und Menipp, zu; bei beiden betont Kidd ihre passive Zuschauerrolle, die ihnen - vor allem aufgrund großer räumlicher Distanz - kein Eingreifen in der von ihnen beobachteten Welt gestattet. Am Ende des Kapitels vergleicht er wieder Lykinos im Hermotimus ("simply watching from a distance, amused by it all", 63), doch vgl. dazu das oben Bemerkte!

Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit dem Dialog Nigrinus (68-87). Auch der Philosoph Nigrinos wird als reiner Beobachter der sich um ihn herum abspielenden Dinge beschrieben; aber ihn einfach "powerless" (73, 76) zu nennen, etwas an diesen Dingen zu ändern, wird Lukians Darstellung nicht gerecht: In c. 26 heißt es, Nigrinos habe kostenlos Unterricht erteilt und die Bedürftigen unterstützt (τοῖς δεομένοις ἐπαρκῶν). Ebenso ist der mehrfache (70, 79) Vergleich des Nigrinos mit dem "Syrer", der sich im Bis Accusatus von der Rhetorik zurückgezogen hat, irreführend; denn mit seiner Hinwendung zum Dialog hat sich der "Syrer" keineswegs in die Passivität zurückgezogen.

Im folgenden Kapitel geht es um den Dialog Gallus (88-108). Hier glaubt Kidd einen Widerspruch darin zu entdecken, dass der Hahn (alias Pythagoras) zwar dem Schuster Mikyllos versichert, sein (Mikyllos') Leben sei das Beste, aber dann mit seinem Hahnen-Leben ganz zufrieden ist: "why would someone who knows what the 'best life' is not actually want it?" (91) Eine (pythagoreische) Antwort könnte sein: weil man sich seine jeweilige Reinkarnation eben nicht aussuchen kann; zwar suggeriert Platons Mythos von Er, den Kidd zum Vergleich heranzieht (93-97), etwas anderes, aber das muss für Lukian nicht maßgeblich sein. Überzeugender ist, dass der Pythagoras-Hahn als Hahn noch mehr die Dinge um sich herum als Zuschauer genießen kann, nicht zuletzt vor der Kenntnis seiner früheren Leben (100).

Im fünften, den "Wahren Geschichten" gewidmeten, Kapitel (109-129) zeigt sich Kidd äußerst unzufrieden mit dem Erzählstil in diesem Werk - "a mess", "a pretty sloppy piece of writing" (109) - und behauptet, hier schreibe jemand, "who simply does not know how to make the extraordinary seem plausible" (ibid.); aber vielleicht war dies gar nicht Lukians Ziel? Etwas später vermutet er: "Lucian writes clumsily, as if on purpose" (110); aber dann heißt es doch wieder: "That it is a parody, doesn't really explain the problem" (ibid.). Kidd kontrastiert diesen von ihm verurteilten Erzählstil - "a torrent of new, unexpected images", "a jarring piece of writing", "a sort of chaos or stylistic randomness" (115) - mit dem von ihm wesentlich mehr goutierten Erzählstil in den "Lügenfreunden" (116-120). Zu Lukians einleitender Aufforderung an den Leser (c. 4), nichts von der folgenden Erzählung zu glauben, stellt er die Frage: "how exactly are we to disbelieve something before we've even heard it?" (123). Er berücksichtigt nicht, dass beim Lesen jedes fiktionalen Textes das Bewusstsein von der Fiktion ("nicht glauben") und die Bereitschaft, sich auf die Fiktion einzulassen ("glauben"), zugleich vorhanden sind.

Im nächsten Kapitel (130-148) verfolgt Kidd die von ihm in den "Wahren Geschichten" festgestellte Dissonanz zwischen Glauben und Nicht-Glauben weiter und überträgt sie auf eine Dissonanz zwischen "realem" und "mentalem" Sehen, die er im vierten "Meergöttergespräch" wahrnimmt: Dort sieht Menelaos, wie Proteus zu Feuer wird, weigert sich aber zu glauben, dass sich eine Wassergottheit in Feuer verwandeln kann. Das führt Kidd aber nur in die gleiche Schwierigkeit, die er schon mit den "Wahren Geschichten" hatte: "There is no room for disbelief: when we read, it seems, belief is already there" (138). Auch wenn nun noch die Prolepsis der Epikureer und stoische Vorstellungen, wie Akzeptanz von Wahrnehmungen mental behindert werden kann, besprochen werden, bringt dieses Kapitel keinen Argumentationsfortschritt.

Im siebten Kapitel (149-172) wendet sich Kidd den Dialogen "Die Bilder" und "Zur Verteidigung der Bilder" zu. Er kritisiert die "cringeworthy flattery" (149) in beiden Texten und hält ihre Beurteilung als "a failure" für "compelling" (153); er weist auch Versuche, diese "failure" als von Lukian intendiert zu deuten, aufgrund der "exhausting grubbery" dieser Texte zurück (ibid.). Aber was soll die hier zutage tretende Empörung? Warum sollte Lukian nicht versucht haben, in einem bestimmten Stadium seines Werdegangs seine "Karriere-Chancen" durch gut gemachte - und das ist sie - Schmeichelei zu erhöhen?

Das Buch enthält auch eine Reihe sachlicher Fehler. [1] Die abschließenden "Conclusions" (173-177) führen zu dem Fazit: "the marks of Lucian-the-reader are [...] everywhere in his performed text. This is not meant as a solution, but a problem" (175-6). Damit ist alles über den aus diesem Buch zu ziehenden Erkenntnisgewinn gesagt; der Rezensent hat ihm keine neuen Erkenntnisse zu Lukian entnehmen können.


Anmerkung:

[1] "Lucian never lets his readers forget his outsider status" (2) - aber in der Maske des Lykinos geriert er sich stets als gebildet-überlegener Grieche. - "What Lucian is doing is no different essentially from what Herodes is doing or Polemo [...] or any other sophist of the day" (7) - aber warum wurde dann von ihm so viel überliefert und von den anderen Genannten fast nichts? - Kidd behauptet, es lägen "centuries" zwischen den zwei ältesten Lukian-Handschriften, dem Harleianus E und dem Vaticanus Γ (42 Anm. 19); es sind aber nur ein paar Jahrzehnte. - Die Erzählung über den Wahnsinn des Kambyses steht nicht in Herodots zweitem Buch (50), sondern im dritten. - Der in Sext. Adv. Math. 7,88 neben Monimos erwähnte Philosoph heißt Anaxarchos, nicht "Anarchus" (84). - In Gall. 9-11 hat nicht der neureiche Simon den armen Schuster Mikyllos bewirtet (88), sondern der reiche (nicht neureiche) Eukrates.

Heinz-Günther Nesselrath