Rezension über:

Sebastian Venske: Gustav Landauer als jüdischer Intellektueller? Eine Biografie (= Europäisch-jüdische Studien; Bd. 76), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2025, IX + 255 S., ISBN 978-3-11-157712-8, EUR 129,95
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Rezension von:
Felix Janina Gräsche
Göttingen
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Felix Janina Gräsche: Rezension von: Sebastian Venske: Gustav Landauer als jüdischer Intellektueller? Eine Biografie, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2025, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 11 [15.11.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/11/39939.html


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Sebastian Venske: Gustav Landauer als jüdischer Intellektueller?

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Sebastian Venske stellt mit seiner 2024 in Erfurt verteidigten und 2025 veröffentlichten Dissertation die Frage, ob der Schriftsteller, Anarchist, Pazifist im Ersten Weltkrieg und Revolutionär der Münchener Räterepublik Gustav Landauer (1870-1919) als ein jüdischer Intellektueller zu verstehen sei.

Unter einem Intellektuellen versteht Venske "eine gebildete Persönlichkeit mit einem gewissen öffentlichen Ansehen [...], die sich in allgemeine gesellschaftliche moralisch-politische Angelegenheiten einmischt" (13). Das spezifisch Jüdische macht der Autor fest an dem Selbstverständnis als Jüdin oder Jude sowie dem "Streben nach einer aktiven Rolle, nach einem Einfluss auf die bestehenden Verhältnisse und deren Veränderung" (18).

Als "zentrale Frage" formuliert Venske, "inwiefern [...] Gustav Landauer an der jüdischen Erneuerung während des Deutschen Kaiserreiches beteiligt [war] und wie [...] er die Frage seiner Zugehörigkeiten, insbesondere vor dem Hintergrund seiner politischen Überzeugungen" verhandelte. (5)

Landauers Bezug zum Judentum ist seit längerem ein Referenzpunkt der Forschung. Eine Frage, die auch in jüngeren Untersuchungen am Rande thematisiert wurde, betrifft Landauers Selbstverständnis als Jude: Norbert Altenhofer postulierte eine "jüdische Wende" (9) im Leben Landauers und datiert diese auf das Jahr 1910.[1] Venskes Dissertation ist dem Selbstverständnis Landauers gewidmet und untersucht dessen Verhältnis zum Judentum. Der Autor legt eine intellektuelle Biografie vor, die er nach den Debatten und sozialen sowie intellektuellen Zusammenhängen strukturiert, in denen sich Landauer bewegte.

Das erste von fünf Kapiteln behandelt Landauers Kindheit und Jugend zwischen 1870 und 1900. Venske stellt die Familiensituation mit Verweis auf die Unterschiede zwischen ländlichem und städtischem Judentum dar. Dabei nimmt er auch auf geschichtliche Darstellungen und soziologische Beiträge zu jüdischer Assimilation, Akkulturation und Säkularisierung Bezug. Zur Einordnung Landauers im gesellschaftlichen Gefüge des deutschen Kaiserreichs bezieht sich der Autor vor allem auf Shulamit Volkov und Monika Richarz.

Das zweite Kapitel thematisiert unter anderem die Diskussion um eine Lebenswende bei Landauer während des Gefängnisaufenthalts 1899. Venske spricht sich gegen diese Interpretation aus: Er konstatiert zwar eine Neufokussierung, betont aber die Kontinuitäten in Landauers Denken.

Das dritte Kapitel behandelt den Zeitraum von 1906 bis 1911 und ist mit "Jüdischer Anarchismus" überschrieben. Venske stellt die 1907 erschienene Publikation "Die Revolution" dar und nimmt Bezug auf die zwischen 1908 und 1911 entstandene Buchfassung des Vortrags "Aufruf zum Sozialismus".

Der Autor beschreibt Landauers in diesem Zeitraum entstandene Anarchismus-Konzeption als einen "symbolischen Anarchismus" (89, 97 ff.), "der sich [...] nicht zu einem jüdischen Anarchismus entwickelte" (225). Allerdings bleibt unklar, was Venske einerseits unter dem "symbolischen Anarchismus" oder unter einem "jüdischen Anarchismus" versteht. Auch mit dem "Symbol"-Begriff und seinen weitreichenden Implikationen setzt sich der Autor nicht weiter auseinander. Das ist besonders deswegen schade, weil der (Gemein-)Geist-Begriff für Landauers Sozialismus-Konzeption zentral ist, in seinem Werk aber insgesamt diffus bleibt. So führt auch Venskes Begriffsbildung nicht zu einem besseren Verständnis.

Des Weiteren beinhaltet das Kapitel die Frage nach der "jüdischen Wende" in Landauers Leben, in Anschluss an Altenhofers These, dass Landauer sich durch die Lektüre von Martin Bubers chassidischen Schriften erst 1908/10 dem Judentum zugewandt und es in seine Identitätskonzeption integriert habe. Venske kommt dagegen zu dem Schluss, die "Beschäftigung mit Bubers chassidischen Geschichten und die Auseinandersetzung mit jüdischen Erfahrungen" habe "keinen Bruch" markiert, "sondern eine Neubestimmung seines Verständnisses von Judentum" (225).

Im vierten Kapitel über die Jahre zwischen 1911 und 1913 werden verschiedene Debatten mit explizitem Bezug zum Judentum behandelt. Venske zeigt, wie Landauer sich an Debatten um "jüdische Literatur und besonders jüdische Nationalliteratur" (161) sowie um Themen wie Antisemitismus und zeitgenössischen jüdischen Strömungen beteiligte.

Das fünfte und letzte Kapitel (1914-1919) behandelt den Ersten Weltkrieg, Landauers pazifistische Positionierung und die Auswirkungen auf persönliche Beziehungen (prominent zu Fritz Mauthner, dem Forte-Kreis und Martin Buber) sowie die Zeit der Münchner Räterepublik.

Die Analyse der letzten Phase in Landauers Leben kommt nach einer ausführlichen historischen Darstellung leider recht kurz. Zwar wird die Diskussion um Landauers Messianismus benannt, doch hätte es noch Potenzial gegeben, die Räterepublik in ihrer Wahrnehmung als jüdisch-geprägte Revolution zu analysieren. Besonders hervorzuheben ist der Briefwechsel zwischen Landauer und der Zeitschrift "Eretz Israel" des jüdischen Nationalfonds, in dem Landauer für einen Artikel über die genossenschaftliche Idee und Bewegung angefragt wurde. Diese Korrespondenz hat Venske erstmals untersucht.

Resümierend kommt Venske zu dem Schluss, dass "die Frage nach Zugehörigkeit und einem jüdischen Selbstverständnis [...] Landauer seit seiner Kindheit und Jugend begleitet" habe (228). Damit argumentiert der Autor gegen die Annahme einer "jüdischen Wende" und belegt dies für die einzelnen (Lebens-)Abschnitte mit der Beteiligung an Debatten und Auseinandersetzungen um dezidiert jüdische Themen. Auch den Aspekt des "jüdischen Intellektuellen", der "stets auf eine Wirkung bedacht" sei und "stets das Ziel verfolgt, nicht nur das Denken zu verändern, sondern auch das Handeln" (230), sieht der Autor bestätigt.

Insgesamt bietet Venske eine gute, auf eine klar benannte Fragestellung konzentrierte Darstellung und somit ein sehr gutes Beispiel einer intellektuellen Biografie.

Zwar gibt es ein paar Defizite in der Darstellung, doch seinem Anspruch, die Forschung zu Landauer zu bündeln und zu ergänzen, das "Werk in seiner Komplexität" (5) darzustellen und Landauer durch seine Briefe und Korrespondenzen "in Beziehung zu anderen jüdischen Denker:innen" (5) zu setzen, wird der Verfasser gerecht.

Auch die Auseinandersetzung mit der bestehenden Forschungsliteratur gelingt Venske; er gibt einen fokussierten Überblick und setzt seinen Befund immer wieder in Relation zu den Debatten.

Venske fokussiert den Blick erfolgreich auf die für Landauers Selbstverständnis als jüdischen Intellektuellen relevanten Diskussionen. Damit leistet er einen wichtigen Beitrag zur Landauer-Forschung und stellt die Debatte um Landauers Bezug zum Judentum auf eine solide Basis.


Anmerkung:

[1] Norbert Altenhofer: Tradition als Revolution. Gustav Landauers "geworden-werdendes" Judentum, in: Jews and Germans from 1860 to 1933. The Problematic Symbiosis, ed. by David Bronsen, Heidelberg 1979, 173-208.

Felix Janina Gräsche