Melanie Wager: "Der Stürmer" und seine Leser. Ein analoges antisemitisches Netzwerk. Zur Geschichte und Propagandawirkung eines nationalsozialistischen Massenmediums, Berlin: Metropol 2024, 536 S., ISBN 978-3-86331-711-9, EUR 36,00
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Die Welt der Medien verändert sich seit Beginn des 21. Jahrhunderts grundlegend. Durch das World Wide Web sind heute in Minuten Reichweiten möglich, die noch in den 1990er Jahren undenkbar gewesen wären. Redaktionell betreute, analoge Medien wie Zeitungen, Fernsehen oder Radio werden von Online-Zeitungen, Mediatheken, redaktionell nicht betreuten Blogs und Sozialen Medien bedrängt oder sogar verdrängt. Rechtspopulistische und -extreme Parteien scheinen von dieser Entwicklung besonders zu profitieren, bei der zwischen korrekter Berichterstattung oder Fake News und Hetze immer schwerer unterschieden werden kann.
Doch wie funktionierte und wirkte rechtsextreme Propaganda vor rund 100 Jahren? Wie bildete sich zu analogen Zeiten ein Netzwerk? Melanie Wager untersucht das interdependente Verhältnis zwischen einem der großen nationalsozialistischen Hetzorgane und seinem Publikum. Die Studie wendet sich gegen die nach 1945 vorgebrachte, entlastende Behauptung, die deutsche Bevölkerung sei von der NSDAP verführt worden. Wie Wager zeigt, interagierte die Redaktion des Stürmer - an oberster Spitze sein Herausgeber Julius Streicher - mit den Leserinnen und Lesern. Der Stürmer bat regelmäßig um Zuschriften, denunziatorische Hinweise und ermunterte das Publikum zur Mitarbeit: "In eigenen, groß angelegten Rubriken, allen voran den Konstanten 'Briefkasten' und 'Was man dem Stürmer schreibt', räumte er [Streicher] den zahlreichen Zuschriften zunehmend größeren Raum in seinem Blatt ein und befeuerte den Eifer mit der Veröffentlichung weiter." (203)
Im öffentlichen Raum waren die sogenannten Stürmer-Kästen der sichtbarste Ausdruck für die Aktivität des Publikums. In ihnen waren die aktuelle Ausgabe oder Ausschnitte aus jüngsten Ausgaben ausgestellt. Dieses Phänomen sei, so Wager, "bislang nur für den 'Stürmer'" bekannt (343). Die Initiative ging oftmals von Leserinnen und Lesern aus: "Anders als bei 'normalen' Zeitungsschaukästen handelte es sich bei der massenhaften Aufstellung der 'Stürmerkästen' Mitte der 1930-Jahre nicht um eine vom Verlag durchgeführte 'Top-down'-Maßnahme, sondern um eine 'Bottom-up'-Initiative, um eine neuartige Form der Selbstermächtigung." (233)
Damit erreichte das Blatt weitaus mehr Deutsche, als es die geschätzte Auflage zwischen 500.000 und 1,5 Millionen Exemplaren erwarten lässt. Nur fünf Prozent der Befragten gaben 1949 bei einer Umfrage des Instituts für Demoskopie an, die Zeitung "sei ihnen unbekannt gewesen" (356).
Wer über den Stürmer forscht, kommt um seinen Herausgeber Julius Streicher nicht herum - daher beginnt die Studie mit einem 50-seitigen biografischen Abriss. Offiziell war Streicher, seit 1925 Gauleiter von Franken beziehungsweise Mittelfranken, ab 1934 nicht mehr Chefredakteur, weil er es Funktionsträgern der Partei gesetzlich verboten, für eine Zeitung verantwortlich zu zeichnen. Zudem hatte er sich seinerzeit innerhalb der Partei nicht nur Freunde gemacht. 1934 wurde das Blatt kurzzeitig verboten, weil Tomáš Masaryk, der Präsident der Tschechoslowakei, in einem Beitrag beleidigt worden war. 1935 folgte ein dreimonatiges Verbot, nachdem im Stürmer "ein höherer nationalsozialistischer Beamter gröblich beschimpft" worden war (307).
Trotzdem: Streicher blieb für die Ausrichtung der Zeitung hauptverantwortlich. Die "zahlreich überlieferten Artikelentwürfe, Bildunterschriften und sonstige Anweisungen und Kommentare weisen häufig ohne Zweifel die Handschrift Streichers auf" (84). 1946 übernahm er bei der Vernehmung also nicht zu Unrecht die Verantwortung "für alles, was meine Mitarbeiter geschrieben haben" (28).
Die Redaktion umfasste rund 200 Personen. Unter ihnen waren "auffallend viele Lehrerkollegen" (85). Bis zu seiner Beteiligung am Putschversuch 1923 in München war Streicher selbst als Lehrer im Staatsdienst tätig gewesen.
"Als NS-Propagandazeitung in Privatbesitz" war der Stürmer einzigartig (188). So wurde er einerseits als Parteiorgan wahrgenommen, das seit 1926 ständig die Nazi-Losung "Die Juden sind unser Unglück" propagierte. Andererseits bewahrte die Zeitung gegenüber der NSDAP eine gewisse Unabhängigkeit. Ein Rundschreiben an alle Gauleiter stellte 1936 klar, dass "die Wochenzeitung 'Der Stürmer' gemäß Entscheidung des Führers kein Parteiorgan" sei (189). Zwei Jahre später klagte Reichspropagandaminister Joseph Goebbels in seinem Tagebuch, Streicher und sein Blatt bildeten eine Art "Staat im Staate" (309).
Diese Sonderstellung sorgte unter höheren Parteifunktionären wiederholt für Kritik. Der Chefredakteur des SS-Organs Das Schwarze Korps, Gunther d'Alquen, lehnte den "'Vulgärantisemitismus' Streichers" ab, zwar "nicht in der Sache, aber in der Form" (194). Dabei war es wohl gerade der boulevardeske, vulgäre und pornografische Stil, der große Wirkung erzielt. Bedauernd erklärte ein Stürmer-Redakteur einem Autor, er habe die detaillierten Schilderungen eines mutmaßlichen Kindesmissbrauchs streichen müssen, obwohl in der Redaktion bekannt sei, dass viele die Zeitung "nur deswegen lesen, um ihre Gier zu befriedigen" (119).
In die Kritik geriet Streicher aber nicht nur wegen der vulgären Sprache. Er und seine Gefolgschaft erpressten mithilfe der Zeitung jüdische Deutsche. Bis Mitte der 1930er Jahre drohten sie jüdischen Geschäftsleuten mit Rufmordkampagnen und zwangen sie, die aktuelle Ausgabe des Stürmer aufzukaufen, um eine weitere Verbreitung zu verhindern. Da er sich "am NS-Staat vorbei" bereicherte (70), wurde Streicher 1940 als Gauleiter von Franken abgesetzt. Die "Stürmer-Kästen" dienten ebenfalls als Instrument der Einschüchterung. In Bad Polzin wurde ein "über drei Meter langer 'Stürmerkasten' in unmittelbarer Nähe des Ladeneingangs von Herrn Gerber, dem jüdischen Inhaber, aufgestellt [...]. Ab diesem Zeitpunkt brachen dessen Umsätze innerhalb weniger Wochen um zwei Drittel ein." (250)
1946, als Julius Streicher vor dem Internationalen Militärtribunal in Nürnberg auf der Anklagebank saß, wurden mit ihm und Hans Fritzsche, der im Reichspropagandaministerium für die Presse zuständig gewesen war, "zum ersten Mal überhaupt Vertreter der Presse für die Folgen von Propaganda zur Rechenschaft gezogen" (346). Dass der Stürmer dafür mit verantwortlich war, dass Judenhass verbreitet und normalisiert wurde, lässt sich nicht bestreiten.
Es ist jedoch kaum möglich, diese Wirkung zu quantifizieren oder allein anhand von Daten, Fotos, Aktivitäten und so weiter nachzuweisen. Über die Wirkung von Kommunikation erfährt man ohnehin nur bedingt aus der Analyse des Propagandaorgans - das für Wager die zentrale Quelle ist. Um die Wirkung des Stürmer nachzuvollziehen, müsste man ganz andere Quellen heranziehen. Mit ihnen ließe sich zum Beispiel zeigen, ob und wie die Art, wie der Nazi-Karikaturist Hans Schweitzer "Juden" zeichnete, für Darstellungen in anderen Medien als Vorlage diente oder wie sich die Hetze aus dem Stürmer in intimen Tagebucheintragungen oder privater Korrespondenz niederschlug. Eine offene Frage ist, wie sich solche Hetze unbewusst auswirkte - und gerade auf der unbewussten Ebene scheinen sich rechtsextreme Lügen und Fake News besonders zu verankern. Auf jeden Fall können Untersuchungen, die solchen Fragen nachgehen, Wagers Studie als Ausgangspunkt nehmen.
Olaf Kistenmacher