Ulrich Pfisterer: Mandragora - Pflanzen als Künstler. Eine Naturgeschichte des Bilder-Machens in der Frühen Neuzeit (= Hybrids; Bd. 1), Heidelberg: arthistoricum 2024, 234 S., DOI: https://doi.org/10.11588/arthistoricum.1369, ISBN 978-3-98501-253-4, EUR 19,90
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Der Blick der Kunstgeschichte auf nicht-menschliche Lebewesen hat sich in den letzten Jahren grundlegend verschoben - neue Forschungsströmungen wie die Human Animal-Studies oder die Critical Plant Studies haben dazu beigetragen, das Verhältnis von Kunst und Natur grundlegend zu überdenken. Im Zuge dieser Neuausrichtung wird zunehmend auch dafür plädiert, Kunstproduktion als "Sympoiesis" menschlicher und nicht-menschlicher Lebewesen anzuerkennen, wie dies Donna Haraway nahelegt. Nach wie vor liegt der Fokus dieser Diskussion mehrheitlich auf Werken und Strömungen der Moderne und Gegenwartskunst. Ulrich Pfisterers Mandragora-Buch ist ein Plädoyer dafür, der vormodernen Geschichte dieser Konzepte mehr Beachtung zu schenken - einer Geschichte, die hier eine Zuspitzung auf den Bereich des Bilder-Machens erfährt. So lässt sich das Buch auch als produktive Weiterentwicklung bildwissenschaftlicher Fragen lesen, die nach dem Abklingen des Iconic Turn zuletzt in den Hintergrund getreten sind.
Die Pflanze (oder Pflanzengruppe), die im Mittelpunkt des Buches steht, ist eine alte Bekannte: die Mandragora, in deren verdickten und verzweigten Wurzeln man ein menschenähnliches Wesen zu erkennen glaubte, das über wirkmächtige Zauberkräfte verfügte und nur mit List aus dem Boden herauszuziehen war, ist Gegenstand einer großen Zahl einschlägiger Forschungsbeiträge. Mit der anthropomorphen Bildlichkeit der Pflanze setzt Pfisterer nun jedoch einen neuen Akzent. Wie die Autorenbilder der Wiener Dioskurides-Handschrift (Wien, ÖNB, Cod. Vind. Med. gr. 1) eindrucksvoll belegen, wurde die Mandragora schon im Altertum als menschengestaltige Pflanze wahrgenommen. Den Ausgangspunkt von Pfisterers Überlegungen bildet jedoch ein frühneuzeitliches Fallbeispiel: der 1670 im Jahrbuch der Academia Naturae Curiosorum veröffentlichte Beitrag des Breslauer Arzts Philipp Jakob Sachs von Lewenheimb über eine "monströse menschengestaltige Wurzel", die 1628 in einem Garten gefunden worden sei. Wiewohl an Bildern der Mandragora wahrlich kein Mangel herrschte, traf der anonyme Kupferstich, der Lewenheimbs Text beigefügt war, offenkundig einen Nerv: als Ergebnis scheinbar genauer Naturbeobachtung wurde er in einer dichten Folge von Nachdrucken in französischen, deutschen und italienischen Zeitschriften, aber auch in enzyklopädischen Kompendien vielfach aufgegriffen, bis hin zu Jean-Baptiste-René Robinets "Considérations philosophiques de la gradation naturelle des formes de l'être" (1768). Hintergrund dieses Interesses, so Pfisterer, waren naturphilosophische und naturwissenschaftliche Überlegungen zum Gestaltungstrieb der Natur, den schon Roger Bacon in seinem "Novum Organum" (1620) mit der menschlichen Gestaltungskraft im Bereich der Kunst verglichen hatte.
Die Diskussion über das bildgebende Vermögen der Natur war keine rein naturkundliche Angelegenheit. Im Fall der Mandragora war sie eng mit magischen und abergläubischen Ideen vom menschenähnlichen Eigenleben der Wurzeln verknüpft. Verschiedene Quellen beschreiben, wie die Pflanzen nach ihrer Entfernung aus der Erde wie kleine Persönlichkeiten behandelt wurden, die eingekleidet, gebadet und gebettet werden wollten. Besondere Aufmerksamkeit widmet Pfisterer der um 1500 aufkommenden und dann rasch sehr populären Legende von der Zeugung der Mandragora aus dem Sperma von Hingerichteten. Diese rückt er in die Nähe von naturwissenschaftlichen Diskussionen über die Fruchtbarkeit des Erdbodens und über die Spontanzeugung von Lebewesen in vermodernden Pflanzenresten. Das Hervorbringen von menschengestaltigen Bildern durch einen Akt der Zeugung ist für Pfisterer ein Aspekt einer umfassenden Sexualisierung der Mandragora, die als anthropomorphe Pflanze in männlicher und weiblicher Gestalt gesehen wurde und allen Bildzeugnissen zufolge als unbekleideter Körper in der Erde steckte. Schon der spätantike "Physiologus" schrieb der Wurzel die Fähigkeit zu, selbst die von Natur aus asexuellen Elefanten zum Geschlechtsverkehr zu stimulieren.
Zum Kernanliegen des Buches stößt Pfisterer dort vor, wo er auf die Bild-Produktion der Pflanzenwelt als breiteres Phänomen zu sprechen kommt. Durch Leon Battista Alberti (Traktat zum Standbild, um 1445), wurde die bei antiken Autoren vielfach bezeugte Vorstellung, Bilder in der Natur verdankten ihre Entstehung dem 'blinden' Zufall, in die frühneuzeitliche Kunsttheorie eingeführt. Zufällig entstandene Naturbilder stehen hier am Anfang der menschlichen Kunstproduktion. Kulturgeschichtlich war diese Idee dort relevant, wo es um Initialzündungen menschlicher Kunstfertigkeit in zeitlich lange zurückliegenden oder geographisch weit entfernten Stadien der Menschheitsgeschichte ging. Umgekehrt konnte die Natur - etwa in Ulisse Aldrovrandis "Geschichte der Monster" (1642) - als Künstlerin verstanden werden, die monströse Formen gezielt hervorbrachte und Lebewesen jenseits ihrer natürlichen Gestalt Bilder einprägte. Die Mandragora konnte in diesem Zusammenhang als Resultat spielerischer Erfindung der Natur gelten, die auf niedrigeren Stufen des Lebens Pflanzen mit menschlichen Formen realisierte. Von dieser Auffassung war es nicht weit zum Konzept der Signaturenlehre, die von einem engen Beziehungsnetz zwischen natürlichem Makrokosmos und menschlichem Mikrokosmos ausging. Immer wieder wurde auch die Position vertreten, hinter all dem könne die göttliche Vorsehung stehen, die die unbelebte wie die belebte Natur mit Hinweisen auf die christliche Heilsgeschichte versehen hatte - etwa in Gestalt der mit den Arma Christi geschmückten Passionsblume oder von Kruzifixen, die sich ohne menschliches Zutun in Bäumen oder den Wurzeln einer Kohlpflanze gebildet hatten. Für die Mandragora blieb in dieser Sichtweise dann der negativ konnotierte Part eines heidnischen, mit Idolatrie verbundenen Wundergewächses übrig, wie es schon in der Beischrift des Kupferstichs in der Publikation von 1670 hieß.
Am Schluss des ansprechend bebilderten und flüssig formulierten Bandes steht ein close reading von Jan van Kessels Zyklus der vier Erdteile (1664/66, München, Alte Pinakothek) - wie Pfisterer überzeugend ausführt, lässt dieses Ensemble sich als ausgefeiltes Statement im Rahmen einer Engführung von Natur, Kultur und Religion deuten. Die Mandragora wird hier Europa zugeschlagen und gemeinsam mit anderen Elementen der Natur als Bild im Bild präsentiert - eine Inszenierung, in der sich deutlich der europäische Drang zur Naturbeherrschung zu erkennen gibt. Die Beischrift "madragora al naturel" kann man mit Pfisterer als ironischen Kommentar darauf lesen, dass die anthropomorphen Mandragora-Bilder der frühen Neuzeit weniger Natur-Produkte zeigten, denn Schöpfungen der menschlichen Fantasie.
Mit seinem Buch über die Mandragora hat Ulrich Pfisterer einen wichtigen Beitrag zur aktuellen Diskussion um eine ökologisch interessierte Kunstgeschichte vorgelegt. Die Mandragora ist das Beispiel par excellence für eine vormoderne Vorstellungs- und Bildwelt, in der nicht-menschlichen Lebewesen erhebliche Handlungsmacht zukam. Wie weit die Mandragora dabei als frühe Form der Künstler-Pflanze agierte, wie es der Titel des Buches zugespitzt nahelegt, und wie weit sie eher als Produkt von Schöpfungsprozessen der Natur gesehen wurde, kann man wohl unterschiedlich beurteilen. Unabhängig davon verdeutlicht der Band eindrucksvoll, dass Kunst und Natur in der frühen Neuzeit keine strikt getrennten oder entgegengesetzten Sphären waren, sondern zwei sich wechselseitig durchdringende Bereiche - auch dort, wo vermeintlich harmlose Rüben aus der Erde gezogen wurden.
David Ganz