Rezension über:

Yaniv Fox: The Merovingians in Historiographical Tradition. From the Sixth to the Sixteenth Centuries, Cambridge: Cambridge University Press 2023, X + 331 S., ISBN 978-1-009-28501-8, GBP 85,00
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Rezension von:
Hendrik Hess
Universität Bonn
Redaktionelle Betreuung:
Étienne Doublier
Empfohlene Zitierweise:
Hendrik Hess: Rezension von: Yaniv Fox: The Merovingians in Historiographical Tradition. From the Sixth to the Sixteenth Centuries, Cambridge: Cambridge University Press 2023, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 11 [15.11.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/11/38767.html


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Yaniv Fox: The Merovingians in Historiographical Tradition

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Auf gut 300 Seiten die Darstellung der Merowinger in der Historiografie von 1000 Jahren zu untersuchen, ist selbstverständlich kein leistbares Unternehmen, sodass Yaniv Fox' Monografie "The Merovingians in Historiographical Tradition. From the Sixth to the Sixteenth Centuries" wohlweislich schlaglichtartig rund ein Dutzend Texte intensiver fokussiert. Dabei geht es ihm um die "various interpretations, explanations, and narrative solutions" (3), die die ausgewählten historiografischen Quellen in Bezug auf die Erzählung von den merowingischen Königen quer durch das Mittelalter anbieten. In gewisser Weise verhält sich dieser Ansatz also komplementär zu jüngeren Arbeiten etwa Helmut Reimitz' und Karl Ubls, die der Frage nach dem Arrangement fränkischer Identität in der Geschichtsschreibung bzw. dem transformativen Umgang mit einem Quellentext - der Lex Salica - über mehrere Jahrhunderte nachspürten.[1] Fox stellt hingegen mit den Merowingern ein historiografisches Motiv und dessen Wandel in den Mittelpunkt einer diachronen Perspektive.

Die Auswahl der Texte - die von den naheliegenden Gregor von Tours und Fredegar bis Jospeh ha-Kohens Divrei Hayamim aus dem 16. Jahrhundert reichen - ist dabei schwach begründet, was Fox auch freimütig einräumt: "Other choices could have been made, which would not have been any more or less justified. [...] The works contained herein are a consciously partial sample, ultimately chosen because they offer lucid examples of a certain development in the narrative." (11) Wenn das nun aber die 'Kriterien' der Auswahl waren, lässt die kurz zuvor getätigte Ankündigung, "[a]s we shall see, the Merovingian period was perceived as a distinct historical moment by those who wrote about it" (10) einen Zirkelschluss vermuten. Auch an anderen Stellen lässt die ansonsten gelungene Einleitung die Lesenden etwas ratlos zurück, wenn etwa herausgestellt wird, dass "[e]ach of the works I will discuss used the Merovingian period to make a historical claim about legitimacy, or power, or the vagaries of human affairs" (9). Ein Befund, der sich sicher weniger durch die Merowinger als Gegenstand, sondern viel eher mit dem historiografischen Genre an sich erklären lassen dürfte, innerhalb dessen sich eben qua Textgattung in aller Regel mit Fragen von "legitimacy, or power" auseinandergesetzt wird, von den wohl kaum an Pauschalität zu überbietenden "vagaries of human affairs" ganz zu schweigen. Der Aufbau der Studie schließlich folgt der von einem Teil der untersuchten Quellen selbst in Bezug auf die Darstellung der Merowinger angelegten Struktur, nämlich der vom Aufstieg (Ursprung der Franken bis Chlodwig), einer konfliktreichen Konsolidierungsphase (Chlodwigs Erben bis zu Dagoberts I. Tod) und Niedergang (von Chlodwig II. bis Childerichs III. Tonsurierung).

Im ersten Kapitel des Aufstieg-Abschnittes widmet sich Fox den Ursprungsmythen, in denen sich ethnische, genealogische und religiöse Stränge überlagern. Bereits hier zeige sich, dass die Figur des merowingischen Königtums je nach Text sehr verschieden ausgestaltet wird. Gregor von Tours etwa verzichtet auf den sonst breit kolportierten Mythos von der trojanischen Abstammung der Franken und nutzt die gens primär als Kulisse für seine heilsgeschichtliche Erzählung über Gallien und das Christentum. Fredegar hingegen integriert sowohl die trojanische Herkunftserzählung als auch den Bericht zur Abstammung der Merowinger von einem Meerungeheuer in seine Darstellung und macht Childerich zu einem zentralen Bezugspunkt. Spätere Verfasser wie Paulus Diaconus in den Gesta episcoporum Mettensium binden den Trojamythos universaler an die ethnische Gesamtheit der Franken an, um auch die Karolinger an einer entsprechenden Abstammung teilhaben lassen zu können. Insgesamt, konstatiert Fox, zeige sich, dass die Erzählung von den frühen Königen der Franken immer wieder neu kombiniert und für unterschiedliche zeitgebundene Aussagen funktionalisiert worden ist, wobei trotz aller Variation eine gewisse Kerntreue zur Vorlage Gregors von Tours festzustellen sei, selbst wenn manches auch später beibehaltene Detail einer geänderten Darstellungsabsicht zuwiderlaufe.

Das zweite Kapitel behandelt Chlodwig als Gestalt fränkischer und französischer Erinnerung. Zwar wurde der Reichsgründer in der karolingischen Historiografie weitgehend marginalisiert, erfuhr aber in späteren Epochen, insbesondere in der humanistischen Geschichtsschreibung, eine Wiederbelebung. Während Gregor von Tours' Darstellung als moralisches Exempel idealen königlichen Verhaltens gedient habe, habe Paolo Emilio zu Beginn des 16. Jahrhunderts den Herrscher als rationalen und politisch klugen Akteur gezeichnet. Dies demonstriert beispielhaft, wie aus denselben Erzählkernen verschiedene Herrscherideale entwickelt werden konnten - ein christlich-erbauliches bei Gregor, ein humanistisch-pragmatisches bei Paolo Emilio.

Der zweite Abschnitt zu Chlodwigs Nachfolgern befasst sich (bei fortlaufender Kapitelzählung) zunächst mit der Universalchronik des Frechulf von Lisieux. In ihr wird die Geschichte der Franken kaum thematisiert; dies geschehe mit dem Ziel, die Karolinger ohne merowingischen Zwischenschritt als direkte Erben des römischen Reiches zu etablieren. Ado von Vienne dagegen nutze die Merowinger als Negativfolie zur karolingischen Ordnung, indem er Gewalt und moralischen Verfall hervorhebt. Beide Verfasser, so Fox, könnten damit stellvertretend als Ausdruck einer Ideologie begriffen werden, die das merowingische Königtum rückblickend deformiere, um die gegenwärtige Herrscherfamilie zu legitimieren. Das vierte Kapitel konzentriert sich auf die Rezeption Dagoberts I. und damit auf einen Wendepunkt zwischen Glanz und Verfall. Fredegar bietet hier eine ambivalente, aber noch zeitnahe Perspektive, während die Gesta Dagoberti Dagobert zum letzten großen König stilisieren. Bei Regino von Prüm markiere das Ende der Herrschaft Dagoberts eine klare Zäsur und vor allem den Übergang zu den Pippiniden. Es lasse sich darüber spekulieren, ob Regino im Niedergang der Merowinger das Schwinden karolingischer Macht seiner eigenen Gegenwart gespiegelt sah.

Im dritten Hauptteil verfolgt Fox die Spuren der 'Schattenkönige'. Mit Sigebert von Gembloux tritt im 12. Jahrhundert ein neues Deutungsmuster auf, das die Merowingerzeit im Zeichen des sog. Investiturstreits liest und den Dynastiewechsel als natürlichen Prozess weltlicher Machtverschiebung mit geringem päpstlichem Einfluss inszeniert. Der jüdische Arzt Joseph ha-Kohen übt hingegen im 16. Jahrhundert subtile Kritik an der christlichen Verherrlichung des Königtums.

Im abschließenden Fazit fasst Fox seine Befunde zusammen: Die Merowingerzeit sei "as much a narrative creation as it was a historical epoch." (272) Die merowingischen Könige hätten in den untersuchten Texten dabei als Projektionsfläche für je aktuelle Überlegungen zu Macht, Legitimität und göttlicher Ordnung gedient. Immer wieder werden sie in biblische oder antike Muster eingebettet; der Trojamythos diene dort als Ergänzung, wo ethnische Identität betont werden solle. Der Übergang zu den Karolingern erscheine in der Historiografie zumeist als folgerichtige Entwicklung, als moralische Lehre oder als Ausdruck zeitgenössischer Selbstdeutung, wobei die Bewertung der Merowinger dabei von Quelle zu Quelle nuanciert. Eine Aufwertung der Merowinger in der Historiografie sei dann vor allem ab dem Hoch- und im Spätmittelalter zu beobachten, sobald auch ihre Nachfolger, die Karolinger, zur Vergangenheit geworden waren. Bemerkenswert sei bei aller punktueller Unterschiedlichkeit in der Darstellung, Heterogenität der Entstehungskontexte sowie Aussageintentionen und trotz der großen diachronen Spannweite der Quellen, dass eine erstaunliche Kontinuität zentraler Erzählmotive zu beobachten bleibt.

Fox' Buch bietet eine Reihe instruktiver Einzelbeobachtungen zur Wandlung und Instrumentalisierung des merowingischen Narrativs und überzeugt besonders dort, wo er die diachrone Persistenz bestimmter Motive herausarbeitet. Die Quellenauswahl bewirkt jedoch gleichzeitig, dass die Studie keine wirklich synthetische Gesamtsicht ermöglicht. Der Ansatz, für jede Phase der merowingischen Geschichte jeweils zumeist andere Texte heranzuziehen, erschwert zudem einen übergreifenden Vergleich der in sich kohärenten Geschichtsbilder einzelner Verfasser. Zwar stellt Fox in den späteren Kapiteln immer wieder Bezüge zwischen den verschiedenen historiografischen Quellen her, doch hängen diese oft lose zusammen und verweisen auf zuvor isoliert behandelte Passagen. Trotz dieser Einschränkungen, die Resultat eines bewusst gewählten Untersuchungsdesigns sind, das transparent kommuniziert wird, bietet die Monografie einen anregenden Zugang zur longue durée der Merowingerbilder. Weiterführend wäre, Fox' Ergebnisse mit aktuellen Beiträgen zum mittelalterlichen Dynastieverständnis, etwa bei Simon Groth[2], Robert Bartlett[3] oder Bernhard Jussen[4] zu konfrontieren, der das Konzept genealogischen Denkens erst im 15. Jahrhundert voll ausgeprägt sieht.


Anmerkungen:

[1] Vgl. Helmut Reimitz: History, Frankish Identity and the Framing of Western Ethnicity, 550-850 (Cambridge Studies in Medieval Life and Thought. Fourth Series; 101), Cambridge 2015; Karl Ubl: Sinnstiftungen eines Rechtsbuchs. Die Lex Salica im Frankenreich (Quellen und Forschungen zum Recht im Mittelalter; 9), Ostfildern 2017.

[2] Simon Groth: in regnum successit. 'Karolinger' und 'Ottonen' oder das 'Ostfränkische Reich'? (Rechtsräume; 1), Frankfurt am Main 2017.

[3] Robert Bartlett: Blood Royal. Dynastic Politics in Medieval Europe (The James Lydon Lectures in Medieval History and Culture), Cambridge 2020.

[4] Bernhard Jussen: Das Geschenk des Orest. Eine Geschichte des nachrömischen Europa 526-1535, München 2023.

Hendrik Hess