Rezension über:

Adelheid von Saldern: Kunstnationalismus. Die USA und Deutschland in transkultureller Perspektive, 1900-1945, Göttingen: Wallstein 2021, 494 S., 18 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-3773-2, EUR 38,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Dorothee Brantz
Center for Metropolitan Studies, Technische Universität Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Dorothee Brantz: Rezension von: Adelheid von Saldern: Kunstnationalismus. Die USA und Deutschland in transkultureller Perspektive, 1900-1945, Göttingen: Wallstein 2021, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 11 [15.11.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/11/35611.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Adelheid von Saldern: Kunstnationalismus

Textgröße: A A A

Adelheid von Saldern widmet sich in ihrer umfassenden Studie Kunstnationalismus der zentralen Frage, wie sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nationale Identität in und durch Kunst formierte und welche transkulturellen Dynamiken diese Prozesse prägten. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass aktuelle Diskussionen über eine "deutsche Leitkultur" historische Vorläufer besitzen, die im frühen 20. Jahrhundert bereits mit großer Intensität geführt wurden. Um diese Debatten in einen breiteren, vergleichenden Kontext zu stellen, nimmt von Saldern sowohl Deutschland als auch die USA in den Blick. Diese Perspektive erlaubt es ihr, Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der nationalen Selbstverortung künstlerischer Produktion herauszuarbeiten, ohne in den traditionellen Sonderwegdiskurs zu verfallen.

Bereits die Einleitung des Buches überzeugt durch ihre analytische Schärfe. Von Saldern skizziert die wichtigsten theoretischen und begrifflichen Zugänge - Nation, Rasse, Geschlecht - und positioniert ihre Arbeit präzise im aktuellen Forschungsfeld der transnationalen Kulturgeschichte. Sie plädiert für eine doppelte Perspektive, die sowohl Verflechtungen als auch Unterschiede ("entangled" und "disentangled histories") sichtbar machen soll. Methodisch verbindet die Studie sozialhistorische, ideengeschichtliche und kulturwissenschaftliche Ansätze und trägt damit zu einer relationalen Geschichtsschreibung bei, die nationale Entwicklungen stets im Austausch mit internationalen Kontexten begreift.

Das Werk gliedert sich in drei große Abschnitte. Zunächst wird die amerikanische Kunstproduktion zwischen 1900 und 1945 analysiert, anschließend die deutsche, bevor im abschließenden Teil beide Perspektiven systematisch aufeinander bezogen werden. Diese klare Struktur ermöglicht sowohl die Betrachtung der jeweiligen Eigenlogiken als auch den Vergleich ihrer transkulturellen Bezugnahmen.

Im ersten Teil zeigt von Saldern, wie sich in den USA der Kunstbegriff in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erweiterte und zunehmend auch angewandte und populäre Formen einschloss. Ausgangspunkt ist die Biografie der afroamerikanischen Sängerin Marian Anderson, deren künstlerischer Werdegang paradigmatisch für die Spannungen zwischen kultureller Anerkennung und rassistischer Ausgrenzung steht. Die Autorin analysiert den Versuch amerikanischer Künstler:innen, einen eigenständigen "American Style" zu entwickeln, der sich sowohl von europäischen Vorbildern distanzieren als auch nationale Eigenheiten betonen sollte. Die Auseinandersetzungen um Architektur - etwa zwischen Louis Sullivan und Frank Lloyd Wright - oder um das Verhältnis von Maschine, Natur und Tradition illustrieren die Vielfalt dieser Suche.

Von Saldern betont die Bedeutung neuer Medien wie Film, Radio und Fotografie, die in den USA früher und breiter als künstlerische Ausdrucksformen anerkannt wurden als in Deutschland. Besonders die New-Deal-Kulturpolitik spielte eine zentrale Rolle bei der Demokratisierung des Kunstbegriffs: staatliche Programme ermöglichten nicht nur die Förderung von Künstler:innen, sondern eröffneten auch marginalisierten Gruppen - vor allem Afroamerikaner:innen - neue kulturelle Räume. In der Musik zeichnet die Autorin die dynamische Verbindung von europäischer Klassik und afroamerikanischen Einflüssen nach. Jazz, Swing und Gospel werden als Ausdruck einer hybriden nationalen Identität verstanden, deren Spannungen zwischen Inklusion und Segregation sich in den Musikstilen selbst manifestieren.

Im Gegensatz dazu erscheint die deutsche Kunstentwicklung stärker von ideologischen und moralischen Kategorien geprägt. Von Saldern zeigt im zweiten Abschnitt, dass Kunst in Deutschland lange Zeit an einen bürgerlich-normativen Begriff von Schönheit und Sittlichkeit gebunden blieb, der sich in Abgrenzung zu Frankreichs vermeintlicher "Formkunst" als "deutsche Gehaltskunst" verstand. Zugleich wurde Kunst zum zentralen Medium der nationalen Selbstvergewisserung. Nach dem Ersten Weltkrieg diente sie der moralischen und ästhetischen "Wiederaufrichtung" des Landes. Dabei entstand ein Spannungsfeld zwischen moderner Ausdrucksform und volkstümlicher Tradition, das sich bis in die NS-Zeit fortsetzte.

Der Autorin gelingt es, die Ambivalenzen dieser Entwicklung überzeugend herauszuarbeiten. Sie verweist auf die Gleichzeitigkeit von Avantgarde und Konservatismus, von Volkskunst und Propaganda, und vermeidet dabei einfache Trennungen zwischen "freier" und "instrumentalisierter" Kunst. Ihre Analysen zur "gemäßigten Moderne" und zur Rolle der populären Musik - von Arbeiterliedern über Klezmer bis hin zur Volksmusik - veranschaulichen, wie eng kulturelle Praktiken mit politischen Deutungen verknüpft waren. Das Radio, von vielen Künstler:innen als genuin modernes Medium wahrgenommen, fungierte hier als Schnittstelle zwischen Aufklärung, Erziehung und Unterhaltung.

Im dritten Abschnitt entfaltet von Saldern schließlich die komparative Dimension ihres Projekts. Sie zeigt, dass die nationalen Kunstnarrative in den USA und Deutschland trotz unterschiedlicher Voraussetzungen ähnliche Funktionen erfüllten: Sie dienten der sozialen Integration, der symbolischen Markierung von Differenz und der politischen Legitimation. Während der amerikanische Diskurs stärker auf Offenheit und kulturelle Hybridität setzte, blieb der deutsche stärker auf Abgrenzung und historische Kontinuität ausgerichtet. Von Saldern gelingt es dabei, die parallelen Diskurse um "Amerikanismus" und "Deutschtum" präzise zu kontextualisieren und die Rolle von Rasse, Geschlecht und Klasse als strukturierende Kategorien sichtbar zu machen.

Besonders hervorzuheben ist die intermediale Breite des Buches. Neben den bildenden Künsten berücksichtigt die Autorin Musik, Design, Film, Fotografie und Ausstellungswesen - ein Ansatz, der die Komplexität moderner Kulturproduktion überzeugend widerspiegelt. Auch die systematische Einbeziehung von Hoch- und Populärkultur ist eine große Stärke des Buches und führt zu einer differenzierten Analyse der sozialen Spannungen innerhalb nationaler Identitätsdiskurse.

Trotz dieser Stärken bleiben einige Fragen offen. So hätte man gern mehr über die Auswahl und Funktion der im Buch abgebildeten, oftmals stereotypen Titelbilder erfahren, die vor allem weiße männliche Künstler repräsentieren. Auch der Einfluss von Migration und Exil - insbesondere der europäischen Emigrant:innen in den USA und der transatlantischen intellektuellen Netzwerke - wird nur am Rande behandelt. Angesichts der Bedeutung dieser Akteure für die transkulturellen Kunstprozesse der Zwischenkriegszeit hätte eine vertiefte Auseinandersetzung den Vergleich zusätzlich bereichert.

Diese Einwände mindern jedoch nicht den insgesamt hervorragenden Eindruck des Werkes. Kunstnationalismus ist ein außerordentlich gelungenes Beispiel für vergleichende Kulturgeschichte. Adelheid von Saldern gelingt es, nationale Diskurse über Kunst und Identität als historisch bedingte, aber zugleich transkulturell verflochtene Prozesse sichtbar zu machen. Ihr Buch verbindet theoretische Reflexion mit empirischer Präzision und eröffnet neue Perspektiven auf die Wechselbeziehungen von Kunst, Nation und Moderne. Damit leistet es einen wichtigen Beitrag nicht nur zur Kunst- und Kulturgeschichte, sondern auch zur historischen Nationalismusforschung im weiteren Sinne.

In seiner Breite und analytischen Tiefe wird von Salderns Studie zweifellos zu einem Referenzwerk für die transnationale Erforschung kultureller Identitätsbildung werden. Sie zeigt eindrucksvoll, dass die Geschichte der Kunst im 20. Jahrhundert nicht als Geschichte abgeschlossener nationaler Räume, sondern als komplexes Geflecht wechselseitiger Einflüsse und Differenzen zu begreifen ist - eine Einsicht, deren Aktualität kaum zu überschätzen ist.

Dorothee Brantz