Heiko Neumann: Ein Ort für "Menschen mit neuem Bewusstsein". Lebenswelten hauptamtlicher Mitarbeiter der Bezirksverwaltung Dresden des MfS 1950 bis 1989 (= Schriftenreihe der Stiftung Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer Politischer Gewaltherrschaft; Bd. 20), Dresden: Sandstein Verlag 2024, 568 S., ISBN 978-3-95498-850-1, EUR 29,00
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Die Geschichte der Hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit wurde bereits gründlich erforscht. Jens Gieseke hat mit seiner Arbeit bereits einen quellengesättigten Gesamtüberblick vorgelegt, der die Lebenswelt der Hauptamtlichen und deren Personalentwicklung zur historischen Entwicklung des Ministeriums im Allgemeinen in Beziehung setzt [1]. Uwe Krähnke hat zudem mithilfe der qualitativen Sozialforschung lebensgeschichtliche Interviews geführt und zeichnete in seiner Studie prototypische Lebensverläufe nach, ließ seine Quellen aber größtenteils im Dunkeln, was eine weitere Nutzung durch die historische Forschung erschwert [2].
Heiko Neumann wählt in seiner Untersuchung einen anderen Ansatz. In fünf Schritten analysiert er die Entwicklung von Struktur, Raum und Menschen. Er bettet zunächst die Bezirksverwaltung (BV) der Staatssicherheit in Dresden in die Sicherheitsarchitektur der DDR ein. Im zweiten Schritt untersucht er den Apparat selbst: die Strukturentwicklung und das Führungspersonal. Danach nimmt er eine Analyse ausgewählter Abteilungen und Leitungen vor und widmet sich den Innenansichten und Lebenswelten der Hauptamtlichen Mitarbeiter. Im abschließenden Teil beleuchtet Neumann die topografische Entwicklung der BV. Weil Neumann schon einleitend feststellt, dass der Habitusbegriff von Bourdieu nur begrenzt anwendbar ist, entwickelt er eine Fünf-Felder-Systematik für die Hauptamtlichen Mitarbeiter, die sich als Gruppierung individueller Merkmale versteht. Nach Neumanns Analyse erzeugte der Apparat der Staatssicherheit einen spezifischen Wirklichkeitsraum, der ihn von der allgemeinen Gesellschaft und den anderen bewaffneten Organen unterschied.
Die quellengesättigte Studie überzeugt durch einen umfangreichen Anmerkungsapparat, der zeigt, dass der Autor den Stand der Forschung breit rezipiert hat. Für seine Analyse hat er zahlreiche Unterlagen des Stasiunterlagenarchivs, aber auch Quellen anderer Archive sowie eigene und durch die Gedenkstätte Bautzener Straße in Dresden geführte Interviews ausgewertet. Einige Quellen, wie das Arbeitsbuch des Leiters der Bezirksverwaltung der Staatssicherheit in Dresden Horst Böhm, gewähren überraschende Einblicke in den Arbeitsalltag und das Innenleben der Staatssicherheit sowie über Arbeitstreffen mit der Berliner Zentrale oder der SED-Bezirksleitung in Dresden.
Neumann stellt die Lebensläufe der Leiter der Bezirksverwaltung, ausgewählter Abteilungsleiter und der Ersten Sekretäre der Parteiorganisation ausführlich und quellenkritisch dar. Diese nachgezeichneten Werdegänge nehmen zwar einen breiten Raum in der Studie ein (170 Seiten), sind aber erfreulicherweise sehr kurzweilig geschrieben. Daraus werden zahlreiche Gemeinsamkeiten der Lebenswelten, Prägungen und Eigenschaften der Stasimitarbeiter herausgearbeitet. Zugleich zeigen sich Maßstäbe und Trennlinien, die Karrieren im Ministerium für Staatssicherheit beförderten oder verhinderten. Es treten dabei Beobachtungen zutage, die sich ohne die akribische Darstellung nicht ergeben hätten - etwa die persönliche Zu- oder Abneigung des Leiters der Bezirksverwaltung, die mitunter über berufliche Aufstiege oder Brüche entschied.
Einige interessante Exkurse beschreiben die Lebenswelten der Hauptamtlichen Mitarbeiter sehr anschaulich, unter anderem die Unterkapitel zu Bestrafungen und Disziplinierungen sowie zum Alkoholismus, aber auch zu den Entlassungen der Offiziere der Staatssicherheit. 1985 erließ man eine Dienstanweisung, die das Trinken von Alkohol am Arbeitsplatz verbot. Die Abteilung Kader und Schulung führte beispielsweise Listen über Mitarbeiter, die durch übermäßigen Alkoholkonsum auffielen.
Bemerkenswert ist überdies die umfangreiche Bebilderung. Die Fotos dienen nicht bloß der Illustration, sondern sind integraler Bestandteil der Analyse - etwa durch die Beschreibung von Getränken auf Tischen oder der Kleidung von Offizieren zu bestimmten Anlässen. Ein interessanter Nebenaspekt sind die Fotos, auf denen Wladimir Putin zu sehen ist, die die Verbindungen zwischen dem Komitee für Staatssicherheit - KGB - und der Bezirksverwaltung Dresden zumindest bei offiziellen Anlässen aufscheinen lassen.
Das im letzten Kapitel ausführlich geschilderte Baugeschehen der BV Dresden und die Topografie des Ortes gliedern sich inhaltlich nicht vollends in die Studie ein - es kann aber für die Gedenkstättenarbeit vor Ort sehr nützlich sein, darüber zu lesen. Für ortsunkundige Leser sind die Beschreibungen teilweise zu ausführlich und schwer nachvollziehbar, eine Übersichtskarte hätte hier möglicherweise Abhilfe geschaffen.
Neumann hat eine sehr gut lesbare Studie geschrieben und hierfür eine Fülle von Material zusammengetragen. Er kommt zu interessanten Aussagen und Erkenntnissen über die Lebenswelten der Offiziere der Staatssicherheit. Dabei zeigt sich, dass einige Beobachtungen - etwa die starke Identifikation über Herkunft und Berufstätigkeit - auch auf die DDR-Gesellschaft insgesamt zutreffen, die sich weithin als Arbeitsgesellschaft verstand. Es wäre nun spannend zu untersuchen, inwieweit sich die gewonnenen Erkenntnisse zum Arbeitsalltag und Machtgefüge in der Staatssicherheit auf andere bewaffnete Organe der DDR übertragen lassen - etwa auf die Volkspolizei oder die Nationale Volksarmee.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Jens Gieseke: Die hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit. Personalstruktur und Lebenswelt 1950-1989/90, Berlin 2000.
[2] Vgl. Uwe Krähnke: Im Dienst der Staatssicherheit. Eine soziologische Studie über die hauptamtlichen Mitarbeiter des DDR-Geheimdienstes, Frankfurt a. M. 2017.
Anita Krätzner-Ebert