Frieder Günther: Verwaltungsstaat. Die Verwaltungskultur der deutschen Innenministerien 1919-1975 (= Veröffentlichungen zur Geschichte der deutschen Innenministerien nach 1945; Bd. 8), Göttingen: Wallstein 2025, 329 S., 9 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-5832-4, EUR 34,00
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Die Behördenforschung hat in den letzten anderthalb Jahrzehnten einen regelrechten Boom erlebt. Angestoßen durch das Buch "Das Amt" (2010), das die Kontinuitäten innerhalb des Auswärtigen Amtes vom Nationalsozialismus in die Bundesrepublik beleuchtete [1], ließen in der Folge zahlreiche Behörden ihre Geschichte aufarbeiten, mit dem Hauptaugenmerk auf möglichen NS-Belastungen. Dies galt auch für das Bundesministerium des Innern (BMI), das ein größeres Kooperationsprojekt förderte, das am Institut für Zeitgeschichte und am Zentrum für Zeithistorische Forschung angesiedelt war und das die Innenministerien der Bundesrepublik und der ehemaligen DDR untersuchte. Nachdem das Projektteam 2018 einen imposanten Sammelband vorlegte, erschienen in der Folge diverse Einzelstudien, die verschiedene Facetten der Geschichte des Innenressorts näher untersuchten. [2]
Das vorliegende Buch ist aus diesem Projekt hervorgegangen und stellt zugleich die Habilitationsschrift von Frieder Günther dar, einem der besten Kenner der bundesdeutschen Behördengeschichte. Seine Arbeit unterscheidet sich dabei gleich mehrfach von ähnlichen Studien: Zunächst beleuchtet Günther ein Ressort in einem Längsschnitt von der Weimarer Republik über den Nationalsozialismus bis in die Bundesrepublik bzw. in die DDR, während andere Arbeiten meist eine kürzere Zeitspanne wählen. Dass sich das Innenministerium als eines der fünf klassischen Ressorts, aus dem später weitere Ministerien hervorgingen, besonders anbietet, zeigt er überzeugend. Zudem präsentiert er seine Ergebnisse in kompakter Form (unter 300 Textseiten), ohne dabei die neuesten Ergebnisse benachbarter Projekte zu vernachlässigen. Angesichts der Stofffülle eine beachtliche Leistung! Schließlich wählt Günther mit der Frage nach der Verwaltungskultur eine innovative Perspektive. Ausgehend von der Frage nach der Funktionslogik moderner Staatlichkeit will er die Entscheidungsprozesse, Kommunikationen sowie Selbst- und Fremddeutungen der vier Innenministerien in deren Geschäftsbereich "Verwaltung" näher ergründen.
Die Arbeit ist im Wesentlichen chronologisch aufgebaut. Von besonderem Interesse ist für Günther die Frage der personellen, mentalen und organisationalen Kontinuität. Die tiefste Zäsur sieht er bei der Gründung des Innenministeriums der DDR, während die Einschnitte beim Übergang von der Weimarer Republik in das NS-Regime weit weniger tief gewesen seien. Hier seien vor allem jüdische und sozialdemokratische Beamte betroffen gewesen, während das Gros einer konservativen bis autoritären Beamtenschaft sich in der ein oder anderen Form mit dem NS-Staat habe arrangieren können. Im Vergleich zur DDR sei auch die Gründung des BMI eher geschmeidig verlaufen, zumal bei der Besetzung vor allem Wert auf fachliche Erfahrung gelegt wurde. Wie sich die eher autoritären Grundhaltungen und der nur vermeintlich unpolitische Beamtenethos in verschiedene Reformvorhaben und Gesetzesarbeiten übersetzten, vermag Günther anschaulich und stichhaltig zu zeigen. Durch den Vergleich der vier verschiedenen Ministerien treten diverse Gemeinsamkeiten und Unterschiede besonders deutlich hervor. Schon hierin liegt ein großes Verdienst der Arbeit. Den vielen klugen Einsichten, die das Buch vermittelt, seien indes einige kritische Punkte gegenübergestellt:
1. Der Titel "Verwaltungsstaat" erscheint nicht ganz glücklich: Im Verfassungsgefüge der Bundesrepublik tritt der Staat auf Bundesebene vor allem als Gesetzgebungsstaat in Erscheinung, auf Landesebene dagegen in erster Linie als Verwaltungsstaat. [3] Abgesehen von einigen Sonderbereichen (etwa Auswärtiges, Bundeswehr oder Zoll) gibt es keine wirklich große Bundesverwaltung, zumal die Ausführung auch der Bundesgesetze im Regelfall den Ländern obliegt (Art. 83 ff GG). Diese steuern und koordinieren die Verwaltung zu weit überwiegenden Anteilen, mit eigenen Rahmengesetzen und Regularien. In der Weimarer Republik verhielt es sich ähnlich, während das NS-Regime und die DDR administrativ weithin gleichgeschaltet waren. Ein Buch zum "Verwaltungsstaat" hätte daher die Länder deutlich stärker miteinbeziehen müssen. Der Begriff des Verwaltungsstaates überzeugt aber auch deshalb nicht durchweg, weil Ministerien eben keine Verwaltungsbehörden im engeren Sinne sind. Vielmehr bilden sie die Schnittstelle zwischen politischer Leitung einerseits und ausführender Verwaltung anderseits. Ihr primäres Aufgabenfeld bestand und besteht, gerade auf Reichs- bzw. Bundesebene, in der Gesetzesvorbereitung (ein Aufgabenfeld, das auch Günther primär beleuchtet), ferner in der Dienst- und Fachaufsicht. Die Durchführung von Verwaltungsakten hat für Ministerien dagegen eine untergeordnete Bedeutung, weil dies in der Regel nachgeordneten Behörden obliegt.
2. Die Arbeit zielt darauf, die Verwaltungskulturen der vier Innenministerien zu untersuchen. Dies gelingt nur zum Teil, denn es handelt sich hier über weite Strecken um eine eher klassische politische Geschichte der vier Innenministerien und der Orientierungen ihres Leitungspersonals - dies allerdings auf durchaus hohem Niveau. Genuin kulturgeschichtliche Perspektiven nimmt Günther zwar immer mal wieder ein, etwa wenn er nach der Bedeutung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit fragt. Wenn solche Aspekte zur Sprache kommen, dann bleibt die Arbeit aber oft deskriptiv, zum Beispiel bei der Beschreibung zentraler Bestimmungen der Geschäftsordnung. Gerade mit Blick auf eine Verwaltungskultur wäre es hier aufschlussreich gewesen, die oftmals unhinterfragten Selbstverständlichkeiten des Behördenalltags (etwa Sprachregelungen oder Geschäftsabläufe) als erklärungsbedürftig zu begreifen und zu untersuchen: Wie kommen bestimmte Bedeutungszuschreibungen, Organisationslogiken und Praktiken zustande, warum werden sie (nicht) verändert und welche Wirkungen ergeben sich daraus in verschiedenen politischen Kontexten? Dass solche kultursoziologisch inspirierten Fragen oft unbeantwortet bleiben, hängt mit einem weiteren Punkt zusammen:
3. Die Arbeit beschränkt sich über weite Teile darauf, das Leitungspersonal der Ministerien zu beleuchten, also die Minister, Staatsekretäre und Abteilungsleiter. Die Organisationseinheiten, welche die eigentliche Sacharbeit in den Ministerien erledigen, also die Referate und ferner die Unterabteilungen, spielen hier als tatsächlicher Analysegegenstand nur eine untergeordnete Rolle. Abgesehen vom Leitungspersonal treten als Akteure meist mehr oder minder anonyme und homogene Kollektive in Erscheinung (etwa "das RMdI", "der zuständige Bereich", "die Beamten" oder "die Ministeriumsmitarbeiter"). Solch schablonenhafte Beschreibungen korrespondieren mit der zum Teil sehr knappen Quellenbasis: Die Abschnitte zur Weimarer Republik stützen sich zum Beispiel auf nur wenige zeitgenössische Quellen, vor allem aber auf Sekundärliteratur und Memoiren auf, etwa von Arnold Brecht oder Wilhelm Külz. Auch in einigen anderen Kapiteln bleiben die Nachweise spärlich (etwa in Kap. 4.5).
Diese Kritikpunkte sollen allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei dem Buch um einen gelungenen Beitrag zur Behördenforschung handelt. Gerade die eher resümierenden Kapitel zu den Handlungsfeldern der Ministerien zählen zum Besten, was es hierzu an Literatur gibt. Vor diesem Hintergrund bietet das Buch vielfältige Einblicke in und Aufschlüsse über die Entwicklung der Innenministerien von der Gründung der Weimarer Republik bis in die Mitte der 1970er Jahre - und dies in kompakter und gut lesbarer Form. Selbst wenn man nicht alle Ansätze und Deutungen Günthers teilt, ist die Auseinandersetzung mit ihnen dennoch wertvoll. Es handelt sich insoweit um ein bereicherndes Buch, das alle mit Gewinn lesen, die an der Geschichte von Ministerien, Behörden und Verwaltung interessiert sind.
Anmerkungen:
[1] Eckart Conze [u.a.]: Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, München 2010.
[2] Frank Bösch / Andreas Wirsching: Hüter der Ordnung. Die Innenministerien in Bonn und Ost-Berlin nach dem Nationalsozialismus, Göttingen 2018. Siehe auch die Projekthomepage: https://geschichte-innenministerien.de/ [28.09.2025]
[3] Siehe bspw. Rainer Wahl: Die Organisation und Entwicklung der Verwaltung in den Ländern und in Berlin, in: Kurt G. A. Jeserich / Hans Pohl / Georg-Christoph von Unruh (Hgg.): Deutsche Verwaltungsgeschichte. Band 5: Die Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1987, 208-292, hier 209.
Niklas Lenhard-Schramm