Rezension über:

Änne Söll / Maike Wagner / Katharina Boje (Hgg.): Under Construction. Kunst, Männlichkeiten und Queerness seit 1970 (= Oyster. Feminist and Queer Approaches to Arts, Cultures, and Genders; Bd. 1), Berlin: De Gruyter 2024, 231 S., 43 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-099109-3, EUR 59,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Sophie Junge
Institut für Kunstgeschichte, Ludwig-Maximilians-Universität München
Redaktionelle Betreuung:
Henry Kaap
Empfohlene Zitierweise:
Sophie Junge: Rezension von: Änne Söll / Maike Wagner / Katharina Boje (Hgg.): Under Construction. Kunst, Männlichkeiten und Queerness seit 1970, Berlin: De Gruyter 2024, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 10 [15.10.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/10/39919.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Änne Söll / Maike Wagner / Katharina Boje (Hgg.): Under Construction

Textgröße: A A A

Der von Änne Söll, Maike Wagner und Katharina Boje herausgegebene Sammelband Under Construction. Kunst, Männlichkeiten und Queerness seit 1970 vereint sechzehn Beiträge in deutscher und englischer Sprache, die sich unter dem Sammelbegriff der "Männlichkeit(en)" mit künstlerischen Praktiken auseinandersetzen. Der Band stellt die Ergebnisse des DFG-Forschungsprojekts Männlichkeiten im Umbau. Männerkörper zwischen phallischen und post-phallischen Visionen in der Kunst seit 1970 (Ruhr-Universität Bochum, 2020-2024) vor und erscheint als erster Beitrag der Reihe Oyster. Feminist and Queer Approaches to Arts, Cultures, and Gender (hrsg. von Hongwei Bao, Susanne Huber und Änne Söll).

In der Einleitung von Under Construction skizzieren die Herausgeberinnen ihre grundlegenden Fragestellungen zur Konstruktion von Männlichkeit(en) und Körperpolitiken in der Kunst seit den 1970er Jahren. Sie verweisen auf die anhaltende Wirkmacht der Figur des männlichen Künstlergenies, bei dem Kreativität und Sexualität traditionell eng miteinander verknüpft wurden, und stellen diesem ein zunehmendes Interesse an der Dekonstruktion hegemonialer Männlichkeitsmodelle gegenüber. Als zentrale konzeptuelle Prämisse wird der Begriff der post-phallischen Männlichkeit eingeführt. Gemeint ist damit eine Abkehr von machtvollen Konzepten klar definierter Norm-Männlichkeit zugunsten pluraler Repräsentationen, die Brüchigkeit, Transformation oder Hybridität in den Fokus rücken. Gleichzeitig betonen die Herausgeberinnen, dass "traditionelle Vorstellungen männlicher Kreativität weiterhin virulent [bleiben] und unter anderem als (post)heroische Männlichkeitsbilder Konjunktur [haben]." [1] So markiert der Phallus den zentralen Angelpunkt, an dem sich künstlerische und theoretische Positionen abarbeiten - affirmativ, dekonstruktiv oder ironisch. Diese doppelte Bewegung von Dekonstruktion und Persistenz bildet eine produktive Ausgangslage für die versammelten Beiträge.

In vier thematischen Sektionen - "Postphallische Männlichkeit?", "Queering Masculinities", "Optimierte Männlichkeit(en)" und "Verletzlichkeit" - wenden sich die Beiträge dem Thema zu. Dabei greifen sie wiederkehrende Sujets auf, etwa die Rolle von Prothesen als künstlerisches Instrument um binär-normierte Geschlechter zu überschreiten, den Umgang mit dem Phallus als symbolischem Marker von Macht oder humorvolle, überzeichnete und queere Strategien der Selbstinszenierung.

Insgesamt konzentriert sich der Band auf den euro-amerikanischen Kunstdiskurs; ein Großteil der Autor:innen widmet sich US-amerikanischen Künstler:innen, die sich mit der Differenzierung weißer Männlichkeitskonzeptionen beschäftigen. Dies mag sowohl an der institutionellen Prägung der deutschsprachigen Kunstgeschichte als auch an der theoretischen Diskursstärke US-amerikanischer Forschungen liegen, was im Band selbstkritisch reflektiert wird. Einzelne Beiträge erweitern diesen Fokus, wie Matthias Pfallers Text zu den Fotografien von Trans*-Männlichkeiten im Werk des:der peruanischen Künstler:in Salmo Suyo, Kassandra Nakas' Ausführungen über ektor garcias Assemblagen und Ayelet Carmis differenzierte Kritik an der Darstellung Schwarzer Männlichkeiten in den Fotografien von Sally Mann. Dennoch bleibt der Band insgesamt stark westlich ausgerichtet; Fragen nach Rassismus, Transkulturalität oder postkoloniale Perspektiven werden angesprochen, aber selten systematisch verfolgt.

Theoretisch stützen sich die Autor:innen vor allem auf queerfeministische Zugriffe, wobei sich eine Konzentration auf wenige zentrale Texte erkennen lässt: Es handelt sich um Jack Halberstams Female Masculinity (1998), Paul B. Preciados Kontrasexuelles Manifest (2003), sowie José Esteban Muñoz' Überlegungen zu queerer Potenzialität und Disidentifikation mit binären Geschlechterordnungen. [2] In der Sektion "Queering Masculinities" werden diese und andere Theorien differenziert in die Analysen eingebunden: Hervorzuheben sind Susanne Hubers Text über Catherine Opies Fotoserie Being and Having (1991), Änne Sölls Überlegungen zur künstlerischen Auseinandersetzung mit Dildos als Spielzeug, um normative Geschlechterordnungen zu durchkreuzen, sowie Maike Wagners Untersuchung der Prothese als queeres Medium in den Arbeiten von Jana Sterbak und Jimmy DeSana. In der kritischen Verknüpfung von Theorie und Kunstwerken leisten diese Texte substanzielle Beiträge zur Diskursbildung.

Mit der Vielzahl an Einzelstudien setzt der Band auf eine offene, dezidiert multiperspektivische Herangehensweise. Diese Vielstimmigkeit wird dem Thema in hohem Maße gerecht. Dennoch wäre es wünschenswert, wenn die Herausgeberinnen in der Einleitung die theoretischen Grundlagen und methodischen Zugriffe noch stärker reflektierten. Angesichts der inhaltlichen Überschneidungen vieler Beiträge - etwa in Auseinandersetzung mit dem Phallus, mit (post)heroischen Männlichkeitsbildern oder Fragen von Sichtbarkeit und Verletzlichkeit - könnte eine vertiefte theoretische Einordnung das Potenzial des Bandes zur Diskursbildung noch klarer hervorheben. Ein zweiter Kritikpunkt betrifft den Umgang mit dem Bildmaterial: Die meisten Beiträge argumentieren nah an den Werkbeispielen, was als eine Stärke des Bandes zu bewerten ist. Jedoch sind insgesamt nur wenige Werke abgebildet, was sicherlich Vorgaben des Verlags und/oder Kosten für Bildrechte geschuldet ist, jedoch die Nachvollziehbarkeit einzelner Argumente erschwert und methodische Fragen aufwirft: Welche Funktion übernehmen die Kunstwerke für die Diskursbildung? Wie lässt sich der hier zugrunde liegende Kunstbegriff benennen, auch in Bezug oder Abgrenzung zur visuellen Kultur, die in nur wenigen Beiträgen zur Sprache kommt? Wie lässt sich also die Auswahl der Künstler:innen kritisch einordnen und produktiv für die kunsthistorisch orientierte Männlichkeitsforschung nutzen?

Trotz dieser Einwände bietet Under Construction einen wichtigen und aktuellen Beitrag zur kunsthistorischen Auseinandersetzung mit dem Wandel von Männlichkeit(en). Viele Beiträge stammen aus laufenden oder kürzlich abgeschlossenen Promotionsprojekten - der Band dokumentiert somit auch einen Nachwuchsdiskurs, der sich durch theoretische Schärfe und interdisziplinäre Offenheit auszeichnet. Die Bandbreite an künstlerischen Beispielen und der Einsatz von Ambivalenz, Humor und Verletzlichkeit in der Auseinandersetzung mit nach wie vor geltenden Hegemonialnarrativen zeigen, wie differenziert Männlichkeit(en) derzeit verhandelt werden können und müssen. Under Construction ist eine relevante Momentaufnahme eines Forschungsfeldes, das - ganz im Sinne seines Titels - weiterhin im Umbau begriffen ist.


Anmerkungen:

[1] Änne Söll / Maike Wagner / Katharina Boje (Hgg.): "Under Construction - Männlichkeiten im künstlerischen Umbau seit 1970. Eine Einleitung", in: Under Construction. Kunst, Männlichkeiten und Queerness seit 1970, hg. v. Dens., Berlin / Boston 2024, 7-20, hier 19.

[2] Jack Halberstam: Female Masculinity, London 1998; Paul B. Preciados: Kontrasexuelles Manifest, Berlin 2003 (2000); José Esteban Muñoz: Cruising Utopia. The Then and There of Queer Futurity, New York 2009; José Esteban Muñoz: Disidentifications. Queers of Color and the Performance of Politics, Minneapolis 1999.

Sophie Junge