Rezension über:

Stefan Bürger / Johannes Sander / Anne-Christine Brehm (Hgg.): 'Bauhütten-Forschungen'. Der Simrock-Boisserée-Nachlass. Zur Geschichte der altdeutschen Steinmetzen und Bauleute. Quellen und Forschungen zu den Handwerksverbänden in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (= Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Philologisch-Historische Klasse; Bd. 86), Stuttgart: S. Hirzel 2024, 3 Bde., 2086 S., 282 Farb-Abb., ISBN 978-3-7776-3547-7, EUR 330,00
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Rezension von:
Christofer Herrmann
Johannes Gutenberg-Universität, Mainz
Redaktionelle Betreuung:
Dominik Brabant
Empfohlene Zitierweise:
Christofer Herrmann: Rezension von: Stefan Bürger / Johannes Sander / Anne-Christine Brehm (Hgg.): 'Bauhütten-Forschungen'. Der Simrock-Boisserée-Nachlass. Zur Geschichte der altdeutschen Steinmetzen und Bauleute. Quellen und Forschungen zu den Handwerksverbänden in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Stuttgart: S. Hirzel 2024, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 10 [15.10.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/10/39910.html


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Stefan Bürger / Johannes Sander / Anne-Christine Brehm (Hgg.): 'Bauhütten-Forschungen'. Der Simrock-Boisserée-Nachlass

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Die "Bauhütte" ist ein vielschillernder Begriff. Erfunden im 19. Jahrhundert durch Romantik und Freimaurertum, verkörperte sie die Idee einer geheimnisumwitternden und mit verborgenen Ritualen versehenen Gemeinschaft vermeintlich freier Steinmetze, die für die Errichtung der imposanten gotischen Kathedralen verantwortlich gewesen sein sollen. Im Gegensatz zu den unfreien Handwerkern der städtischen Zünfte hätten die freien Steinmetze mit ihrem Hüttengeheimnis - als kreatives und selbstorganisiertes Künstlerkollektiv - die großartigen Bauschöpfungen der Gotik erst ermöglicht. Auch wenn die moderne Kunstgeschichte manche kritischen Einwände gegen die Thesen der romantischen Bauhüttenliteratur vorgebracht hat, so lebt doch in der heutigen Wissenschaft die Vorstellung der "Bauhütte" als besondere Organisationsform fort. Der Begriff ist in der mittelalterlichen Architekturgeschichte allgegenwärtig und gewinnt im populärwissenschaftlichen Bereich sogar an Beliebtheit. Auch die UNESCO hat den Begriff inzwischen geadelt, indem das "Bauhüttenwesen" 2020 in das immaterielle Weltkulturerbe aufgenommen wurde. Dabei wird eine direkte historische Verbindungslinie zwischen den modernen Kathedralbauhütten und ihren gotischen Vorfahren gezogen.

Was ist daran falsch? Die unter der Herausgeberschaft von Stefan Bürger, Johannes Sander und Anne-Christine Brehm unter Mitwirkung einer größeren Gruppe von Bearbeitern entstandene Publikation zu »Bauhütten-Forschungen« zieht fast alle Gewissheiten über das "Bauhüttenwesen" in Zweifel, auch der Begriff selbst wird als eigentlich unbrauchbar gekennzeichnet. Schon im Vorwort betonen die Autoren: "Die 'Bauhütte' gab es nicht; der Begriff ist eine neuzeitliche Erfindung; er verunklärt, taugt nichts und wäre im Prinzip abzulehnen." (I, 18)

Ein wenig bedauerlich ist, dass sich die Herausgeber trotz dieser deutlichen Worte nicht dazu entschließen konnten, auf den Begriff als Fachterminus ganz zu verzichten, stattdessen wird er durchgehend in verschiedenen Varianten (Hütte, Bauhütte, Dom(bau)hütte, etc.) verwendet, manchmal mit Anführungszeichen, manchmal ohne. Beim Lesen stellt sich so mitunter die Frage, was eigentlich genau damit gemeint sein soll, wo doch das Wort im Textband mehrmals als wissenschaftlich unbrauchbar verurteilt wird. Das weitere Schicksal der "Bauhütte" als wissenschaftlicher Terminus wird in Zukunft sicherlich davon abhängen, ob (auch angestoßen durch die vorliegende Publikation) vertiefende Forschungen zum Gegenstand folgen werden, die das Verständnis der Sache - und damit auch die Terminologie - verändern könnten.

Ausgangs- und Mittelpunkt der Publikation ist ein im Weimarer Goethe- und Schiller-Archiv befindlicher umfangreicher Bestand an Originaldokumenten und Abschriften zum Steinmetzhandwerk in Deutschland. Diese Sammlung wurde von dem Frankfurter Arzt Christian Ehrmann am Beginn des 19. Jahrhunderts begründet, der die Unterlagen 1819 an Sulpiz Boisserée verkaufte. Boisserée führte die Sammlungstätigkeit weiter mit dem Ziel, die Dokumente zusammen mit einer Geschichte des altdeutschen Steinmetzwesens zu publizieren. Ein offenbar 1851 abgeschlossenes Manuskript kam jedoch nicht mehr zu Veröffentlichung, stattdessen überließ Boisserée in dieser Zeit die Dokumente und das Manuskript Karl Joseph Simrock, der sich im Weiteren erfolglos um die Veröffentlichung bemühte. Schließlich gelangten die Dokumente und Manuskripte in das Goethe- und Schiller-Archiv, wo sie lange ein kaum beachtetes Dasein fristeten.

Unter Leitung der Herausgeber wurde zwischen 2018 und 2023 ein Forschungsprojekt durchgeführt, dessen Ziel es war, die Bestände aufzuarbeiten, zu edieren und unter bestimmten Gesichtspunkten aufzuarbeiten. So sollte das Mitte des 19. Jahrhunderts Versäumte nachgeholt und die Publikation zum "altdeutschen Steinmetzwesen" aus moderner Forschungsperspektive aufgearbeitet werden. Die Autoren gehen davon aus, dass eine Veröffentlichung noch zu Zeiten von Boisserée / Simrock einen bedeutenden Einfluss auf die Entwicklung der Kunstwissenschaft genommen hätte: "Wir hätten heute vermutlich einen völlig anderen Wissensstand." (I, 86) Ob die quellenkundlich fundierten Erkenntnisse Boisserées allerdings die von den Romantikern und Freimaurern geschaffenen Mythen zum Bauhüttenwesen verhindert hätten, kann bezweifelt werden, da diese einem ausgeprägten Zeitgeist geschuldet waren, der sich kaum durch ein Quellenwerk hätte bändigen lassen.

Die in drei voluminösen Bänden (ein Textband und zwei Editionsbände) vorliegende Projektpublikation hatte drei hauptsächliche Ziele: Erstens, die Herausgabe der von Ehrmann und Boisserée zusammengetragenen Quellen, die zeitlich vom 14. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts reichen, mit einem Schwerpunkt im 15. und 16. Jahrhundert. Zweitens, Untersuchungen zur Sammlungs- und Forschungsgeschichte der beiden Urheber in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Drittens, eine Auswertung des Quellenmaterials, schwerpunktmäßig in Hinsicht auf Aspekte des Straßburger Hüttenverbands zwischen 1459 (erstmaliger reichsweiter Anspruch eines Zusammenschlusses von Steinmetzen) und 1563 (Erneuerung der Hüttenorganisation). Abgerundet wird die Publikation durch ein auf Vorarbeiten von Boisserée beruhendes Glossarium zur bauhandwerklichen Fachsprache.

Lobend hervorzuheben ist die in recht kurzer Zeit vollbrachte umfangreiche Editionsleistung, die der Forschung eine große Fülle von Quellenmaterial zur Hand gibt, das sich als eine Grundlage für weiterführende Detailuntersuchungen anbietet. Auch der weit gefächerte Überblick zur Geschichte der "Bauhütten", bei dem alle in der Ordnung von 1563 genannten 22 buchführenden Haupthütten vorgestellt werden, ist in dieser Vollständigkeit bislang einmalig. Dabei behandeln die Autoren die Aspekte der jeweils nachweisbaren Handwerksorganisation vor Ort, die wichtigsten bekannten Werkmeister sowie das Verhältnis der jeweiligen Haupthütten zu anderen Hütten (insbesondere zu Straßburg). Diese Darstellung deutet die Komplexität des Gegenstands an und zeigt gleichzeitig auf, wie weit der Weg noch ist, um die Fragen zur Bauorganisation und dem Steinmetzwesen im Mittelalter und der Frühen Neuzeit einigermaßen verlässlich zu erfassen. Die Bauhüttenliteratur des 19. Jahrhunderts hat der Forschung in dieser Beziehung mehr Steine in den Weg gelegt, als zur Aufklärung beizutragen.

Hinzuweisen ist an dieser Stelle nur auf wenige Problemstellungen. So gab es offenbar eine große Bandbreite von Organisationsformen im deutschen Steinmetzwesen zwischen Zünften, Bruderschaften und einem überregionalen Hüttenverbund, keinesfalls jedoch einen scharfen Gegensatz von freier "Bauhütte" und unfreier städtischer Zunft, wie die tradierte Ansicht nahelegt. Außerdem waren die Hütten kein mittelalterliches Phänomen, das nach der Reformation untergegangen ist. Man könnte sogar mutmaßen, dass die Hüttenorganisation der Spätgotik nur das Vorspiel für einen reichsweiten Steinmetzverbund gab, der seinen Höhepunkt erst im 16. und 17. Jahrhundert erreichte. Vielleicht sollte "die 'Bauhüttengeschichte' sogar als dezidiert frühneuzeitliche Entwicklung" begriffen werden. (I, 444)

Es bleibt am Ende die Frage, welchen Forschungswert die mit etwa 200-jähriger Verspätung erfolgte Veröffentlichung der Quellensammlung von Ehrmann / Boisserée für die heutige Kunstgeschichte noch haben kann? Die Herausgeber verstehen ihre Publikation nicht als Abschluss einer Forschungsaufgabe, "sondern als Impuls, um kritische Auseinandersetzungen mit den vorgelegten Materialien und Ergebnissen anzuregen und bestenfalls weitere Untersuchungen 'zur Geschichte der altdeutschen Steinmetzen und Bauleute' anzustoßen." (I, 545) Diesem Wunsch ist beizupflichten. Die Erforschung zur Geschichte der mittelalterlichen und neuzeitlichen Bauorganisation steht in vielerlei Beziehung eher am Anfang bzw. wurde durch die romantische und freimaurerische Mythenbildung des 19. Jahrhunderts auf zahlreiche Irrwege geführt, die heute noch nachwirken. Eine Revision überkommener Vorstellung und eine gründliche Quellenarbeit (sowohl Neuerschließung von Quellen als auch kritische Hinterfragung überkommener Interpretationsmodelle) sind notwendig, um eine wissenschaftlich fundierte Erschließung der oben angedeuteten Fragestellungen zu ermöglichen. Die vorgelegte Quellenedition und die im Textband aufgeworfenen neuen Blickwinkel und Fragestellungen sollten als Startschuss verstanden werden, die grundlegenden Fragen zur Organisation des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Bauwesens mit neuem Elan und befreit von tradierten Vorstellungen anzugehen.

Christofer Herrmann