Rezension über:

Sophia Rosenfeld: The Age of Choice. A History of Freedom in Modern Life, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2025, 462 S., 8 Farb-, 45 s/w-Abb., ISBN 978-0-691-16471-7, USD 37,00
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Rezension von:
Christoph Streb
Deutsches Historisches Institut, Paris
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Christoph Streb: Rezension von: Sophia Rosenfeld: The Age of Choice. A History of Freedom in Modern Life, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2025, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 10 [15.10.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/10/39817.html


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Sophia Rosenfeld: The Age of Choice

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In ihrem neuen Buch will die US-amerikanische Historikerin Sophia Rosenfeld wissen, warum Freiheit heute so maßgeblich darüber verstanden wird, dass Individuen eine Auswahl zwischen verschiedenen Optionen treffen können. The Age of Choice ergründet, woher die Obsession mit der Wahlfreiheit und dem Auswählen seit dem 18. Jahrhundert rührt und was sie heute bedeutet.

Neben der Reichweite der Fragestellung lässt der methodische Ansatz des Buches aufmerken. Rosenfeld, die an der University of Pennsylvania lehrt, heftet die Geschichte der Idee der Wahlfreiheit konsequent an alltäglichen Praktiken des Auswählens an. Erst etablierten sich solche Praktiken, dann postulierten liberale Theoretiker wie etwa John Stuart Mill, Freiheit bestehe darin, die Wahl zu haben. Diese praxeologische Erdung verschiebt die Quellengrundlage: Neben Gesetzestexte oder psychologische Fachpublikationen treten gleichwertig Ratgeber, Romane, aber auch allerhand Papierartefakte des Auswählens, "obsolete material objects" (22), wie etwa Speisekarten oder Multiple-Choice-Klausuren. Außerdem richtet sich der Blick auf andere Akteure: Besonders Frauen fanden sich immer wieder im Zentrum von Auseinandersetzungen über die Wahlfreiheit wieder.

Das Buch entwickelt nacheinander drei größere Argumente. 1) Seit dem 18. Jahrhundert traten neben ein älteres dichotomisches Modell der Wahl zwischen dem moralisch richtigen und dem moralisch falschen Leben neue Praktiken der Auswahl aus Portfolios an Optionen, die weniger wertbeladen waren. 2) Auch diese vermeintlich freie Wahl zwischen mehreren Alternativen war aber niemals wirklich regellos, sondern eingebettet in straffe Ordnungen und Choreographien des Auswählens. 3) Zunehmend wurde das Auswählen dann in "capitalist democracies" (6) zu einem Lifestyle, zum normativen Selbstzweck und schließlich zum Menschenrecht.

Schon das erste von fünf Kapiteln zur Entstehung des Shoppings im britischen und französischen 18. Jahrhundert setzt den Ton. Auswählen entwickelte sich hier als Konsumpraxis. Impresarios stellten die Menschen mit Hilfsmitteln wie Schaufenstern, Preisschildern und Katalogen vor die Qual der Wahl. Der Erwerb von Waren wie Büchern oder bedruckter Baumwollkleidung wurde so durch neue Praktiken des Betrachtens und Begehrens orchestriert. In der zeitgenössischen Debatte allerdings wurde das Auswählen in Konsumform über die Figur der Coquette weiblich konnotiert und äußerst ambivalent bewertet.

Das zweite Kapitel setzt mit der Frage religiöser Wahlfreiheit noch einmal neu an. Schon seit der Reformation war das autonome Bekenntnis zum Glauben zunehmend ins Zentrum protestantischer theologischer Debatten getreten. Besonders im englischsprachigen Raum entwickelte sich daraus aber seit dem 18. Jahrhundert ein tatsächliches Portfolio religiöser Bekenntnisse, das Individuen je nach intellektueller Präferenz navigierten. Die Möglichkeit dazu schuf auch ein expandierender Marktplatz verfügbarer Weltbilder, der durch die Expansion von Buchhandel und Pressewesen entstanden war.

Das dritte Kapitel widmet sich der Partnerwahl. Weil Zuneigung für die Eheschließung im bürgerlichen Zeitalter an Stellenwert gewann, entstanden im 19. Jahrhundert neue Institutionen wie etwa Bälle, die ein Kennenlernen und gegenseitiges Auswählen möglich machen sollten. Gerade für Frauen wurde die Partnerwahl die Wahl schlechthin. Im Kern des Kapitels steht aber die Einhegung der Wahlfreiheit. Die Freiheit der Partnerwahl beim Paartanz etwa wurde mittels Tanzkarten, Zeremonienmeistern und in Ratgebern kodifizierten Verhaltensritualen reglementiert. Rigide Ordnungen des Auswählens sollten so die Gefahren der Wahlfreiheit abfedern.

Das vierte Kapitel verfolgt die Untersuchung der Einhegungen der Wahlfreiheit am Beispiel des politischen Wählens weiter. Ausgehend vom britischen Ballot Act des Jahres 1872 und dem Artefakt der Wahlurne erläutert Rosenfeld, wie die geheime, individualisierte Listenwahl mit den etablierten, öffentlichen und kollektiven Wahlpraktiken brach. Angesichts der schrittweisen Ausweitung des Wahlrechts im 19. Jahrhundert müsse man in dieser liberalen Individualisierung des Wählens eine weitere Reglementierung der Wahlfreiheit lesen, welche die Wahl der Massen durch die Isolation des einzelnen Wählers gleichzeitig freiheitlicher und geordneter machen wollte. Gerade Feministinnen versuchten auf dieser Grundlage zu beweisen, dass auch Frauen der Ordnung der politischen Wahlfreiheit gewachsen waren.

Das fünfte und letzte Kapitel der Arbeit rekonstruiert, wie das Auswählen im 20. Jahrhundert zum Gegenstand einer eigenen Expertise wurde, die wiederum als normatives Programm auf Praktiken zurückwirkte. Im Zeitalter des Massenkonsums entstand zunächst eine Wissenschaft des Kaufverhaltens. In Konsument:innenbefragungen und politischen Umfragen drang dann die Wahlfreiheit in Form von "multiple choice"-Listen direkt in den Entscheidungsalltag ein. Der Homo Oeconomicus der Wirtschaftswissenschaften bereitete schließlich einer allumfassenden Konsekration der Wahlfreiheit den Weg. Von den USA ausgehend wurden Modalitäten des Auswählens nach dem Zweiten Weltkrieg zum globalen Aushängeschild der demokratisch-kapitalistischen Moderne. Eine Moral, in der Wahlfreiheit als solche wichtiger war als die tatsächlich verfügbaren Optionen, drang dadurch tief in das Programm universeller Menschenrechte ein.

In der Abfolge der Kapitel wird nach und nach immer klarer, dass Rosenfeld keine Erfolgsgeschichte, sondern eine historisierende Kritik des Auswählens anstrebt. Freiheit durch Auswahl bleibe für viele Menschen eine Illusion. Auch dass die eigene Wahl negative gesellschaftliche Auswirkungen haben könne, blende die Dogmatik des Auswählens aus. Freiheit müsse deshalb gerade heute wieder sozialer verstanden werden, d.h. in sozialen Kontexten, über die Analyse von ungleichen Voraussetzungen und im Verbund mit kollektiven Zielen.

Am Ende stehen augenöffnende Erkenntnisse neben offenen Fragen. Ließe sich nicht das Grundproblem des Buches doch in ein differenzierungstheoretisches Narrativ einbetten, in dem komplexe moderne Gesellschaften ein Regime des Auswählens begünstigen, während engere Gemeinschaften dafür gar keine Grundlage boten? Wäre das der Fall, dann wäre die Obsession mit der Wahlfreiheit schwerer auszuhebeln, als Rosenfeld vermutet. Ganz grundsätzlich hätte man über wirkliche Alternativen zur Wahlfreiheit gerne mehr erfahren. Ob hauptsächlich die Regularien der Wahlfreiheit selbst demokratisiert werden sollen, oder ob es tatsächlich darum gehen kann, das Auswählen als solches abzuschaffen, diese Frage lässt Rosenfeld wohl bewusst im Raum stehen.

The Age of Choice schafft es aber trotzdem, der engen Verknüpfung von Auswählen und Freiheit durch kluge Historisierungsarbeit das Selbstverständliche zu nehmen. Besonders die methodische Virtuosität lässt einen mit Bewunderung zurück. So kann man also auch Ideengeschichte machen.

Christoph Streb