Rezension über:

Ronny Heidenreich (Bearb.): Die DDR im Blick der Stasi 1972. Die geheimen Berichte an die SED-Führung (= Die DDR im Blick der Stasi. Die geheimen Berichte an die SED-Führung), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2024, 320 S., 5 s/w-Abb., ISBN 978-3-525-37510-5, EUR 30,00
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Rezension von:
Dierk Hoffmann
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Dierk Hoffmann: Rezension von: Ronny Heidenreich (Bearb.): Die DDR im Blick der Stasi 1972. Die geheimen Berichte an die SED-Führung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2024, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 10 [15.10.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/10/39673.html


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Ronny Heidenreich (Bearb.): Die DDR im Blick der Stasi 1972

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Die Berichte der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) sind bekanntlich eine zeitgeschichtliche Quelle von besonderem historischen Wert, denn sie geben Auskunft darüber, nach welchen Auswahlkriterien und Methoden das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) die politische, sozio-ökonomische und kulturelle Entwicklung in der DDR systematisch für die SED-Führung zu erfassen versuchte. Darunter befinden sich nicht nur allgemeine Stimmungs- und Lageberichte, sondern auch Meldungen über Einzelvorkommnisse. Legt man alle bisher publizierten Jahresbände der Editionsreihe nebeneinander, so bestätigt sich der Eindruck eines zunehmenden Professionalisierungsprozesses, der sich auch im personellen und strukturellen Ausbau der Behörde niederschlug, die sich als sogenanntes Schild und Schwert der Hegemonialpartei SED verstand. Die Forschung hat immer wieder und zu Recht darauf hingewiesen, dass die MfS-Berichte einer sorgfältigen Quellenkritik zu unterziehen sind. Sie spiegeln nämlich die Stimmungslage der Bevölkerung nur sehr eingeschränkt wider; die Dokumente geben vielmehr einen direkten Einblick in die Denkweisen und Interpretationsmuster der Stasi.

Der vorliegende Band über das Jahr 1972 deckt inhaltlich ein breites und heterogenes Themenfeld ab. Dieses Themenfeld umfasst die allgemeine Deutschland- und Kirchenpolitik, aber auch konkrete Ereignisse wie die Enteignung der letzten halbstaatlichen und privaten Betriebe, die mit dem Abschluss des Transitvertrages verbundene Grenzöffnung zum Westen sowie die Aufhebung des Visazwangs für Reisen der DDR-Bevölkerung nach Polen und in die Tschechoslowakei, den Anstieg der registrierten Fluchtversuche, den vermeintlichen Aufbruch im Kulturbereich sowie die vom Politbüro beschlossene Liberalisierung des Rechts auf Schwangerschaftsabbruch. Der Adressatenkreis war sorgfältig ausgewählt: Grundsätzlich erhielten alle Mitglieder des SED-Politbüros und die führenden Vertreter des Staatsapparates (Minister, Staatssekretäre, stellvertretende Minister) die Informationen, die ihren Zuständigkeitsbereich betrafen. An der Spitze der Empfänger standen - neben Erich Mielke - Erich Honecker, Willi Stoph, Paul Verner und die KGB-Zentrale in Berlin-Karlshorst. Einen Bericht über "Pläne, Absichten, Maßnahmen und andere gegnerische Aktivitäten gegen die DDR und andere sozialistische Staaten unter Missbrauch der Olympischen Sommerspiele 1972 in München" erhielten auch die tschechoslowakische, polnische und ungarische Geheimpolizei. Der politisch bereits kaltgestellte alte Parteichef Walter Ulbricht und sein Gefolgsmann Albert Norden blieben dagegen von der Informationszufuhr komplett ausgeschlossen.

Dass die Berichterstattung eine verzerrte Wahrnehmung der Stasi offenbart, lässt sich exemplarisch zeigen: Mit dem Machtwechsel in der DDR 1971 rückte die Sozialpolitik ins Zentrum des real existierenden Sozialismus. Sie verschmolz mit der Ökonomie auf der ideologischen Ebene zur sogenannten Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik. Gleichzeitig entwickelte sie sich zum Markenzeichen des Sozialismus unter Erich Honecker. Die damit verbundenen Wohlstandsversprechen dienten der Herrschaftssicherung und weckten große Erwartungen in der DDR-Bevölkerung. Ost-Berlin war davon überzeugt, die Entwicklung des Lebensstandards langfristig steuern zu können. Nachdem bereits auf dem VIII. SED-Parteitag 1971 eine entsprechende Direktive verabschiedet worden war, präsentierte die SED ein Jahr später das sozialpolitische Maßnahmenpaket im Neuen Deutschland. Das Kernstück bildete ein ehrgeiziges Wohnungsbauprogramm. Hinzu kamen etwa eine Verbesserung der Rentenleistungen und vor allem ein massiver Ausbau sozialpolitischer Einrichtungen in den Großbetrieben und Kombinaten. Dieser Strategiewechsel schlägt sich in den ZAIG-Informationen kaum nieder. In einem internen Bericht stellte das MfS zwar mit Genugtuung fest, dass die "umfangreichen sozialpolitischen Maßnahmen [...] ausnahmslos mit großer Zustimmung aufgenommen" worden seien (146). Dagegen wurden Eingaben aus der Bevölkerung über die unzureichenden Rentenleistungen, die auch das MfS erreichten, nicht erwähnt. Insofern legte Stasi-Chef Mielke dem Politbüro einen letztlich geschönten Bericht über den Zustand des ostdeutschen Systems der sozialen Sicherheit vor.

Die ZAIG-Berichte zeigen auch, dass in der DDR-Bevölkerung Fremdenfeindlichkeit und Alltagsrassismus virulent und mitunter weit verbreitet waren, obwohl es diese Phänomene mit Blick auf die von oben verordnete Völkerfreundschaft offiziell nicht geben durfte. Im Zuge der Grenzöffnung nach Osten intensivierte sich schlagartig der Reiseverkehr zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen. Aufgrund der prekären Wirtschaftslage, die 1970 zu gewaltsamen Massenprotesten in Polen und zum Rücktritt von Teilen der KP-Führung geführt hatten, reisten offenbar viele Polen ins ostdeutsche Nachbarland, um Konsumgüter zu erwerben. Dadurch drohte sich wiederum die Versorgungslage in der DDR zu verschärfen, wodurch sich die antipolnischen Ressentiments unter den Ostdeutschen Bahn brachen, die vom MfS durchaus registriert wurden. Dabei zeigte die Stasi viel Verständnis und übernahm völlig unkritisch Vorurteile gegenüber polnischen Staatsbürgern: "Aus Einkaufszentren polnischer Bürger in der DDR wurden eine Reihe von Beispielen bekannt, wonach diese zum Teil rücksichtslos, unfreundlich, anmaßend oder arrogant auftreten" (282). Die polnischen Besucherinnen und Besucher hätten durch ihr Auftreten - so die Lesart des ZAIG-Berichts - die fremdenfeindliche Haltung erst "genährt bzw. begünstigt".

Der Jahresband 1972 ist wie gewohnt sorgfältig ediert. Darüber hinaus liefert der Bearbeiter Ronny Heidenreich eine sehr instruktive Einleitung, in der er nicht nur auf die vielfältigen Themen, sondern auch auf das MfS, die Struktur der Berichte sowie deren Adressaten und Rezeption ausführlich eingeht. Es fehlt allerdings ein Personen-, Orts- und Sachregister, so dass sich die Leser die einzelnen Dokumente mühsam über den (vom MfS) vergebenen Dokumententitel erschließen müssen. Die Abschriften aller edierten Berichte des Jahres 1972 sind vollständig auf einer Website (https://1972.ddr-im-blick.de) abrufbar. In der vorliegenden Buchausgabe ist nur eine kleine Auswahl abgedruckt, wobei die Auswahlkriterien unklar sind. Da die Online-Version eine Datenbank enthält, über die eine elektronische Volltextsuche möglich ist, werden Historikerinnen und Historiker vermutlich kaum auf das gedruckte Buch zurückgreifen.

Dierk Hoffmann