Rezension über:

Hanno Tiesbrummel: Velázquez und die Mythologie. Zur Entstehung von Sinn in Form und Präsenz, Berlin: Gebr. Mann Verlag 2024, 455 S., 136 Farb-, 45 s/w-Abb., ISBN 978-3-7861-2902-8, EUR 69,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Rostislav Tumanov
Institut für Kunstgeschichte, Universität Stuttgart
Redaktionelle Betreuung:
Henry Kaap
Empfohlene Zitierweise:
Rostislav Tumanov: Rezension von: Hanno Tiesbrummel: Velázquez und die Mythologie. Zur Entstehung von Sinn in Form und Präsenz, Berlin: Gebr. Mann Verlag 2024, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 10 [15.10.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/10/39110.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Hanno Tiesbrummel: Velázquez und die Mythologie

Textgröße: A A A

Das erhaltene Œuvre von Diego Velázquez umfasst sechs Gemälde mit mythologischen Sujets, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten seiner Schaffenszeit entstanden sind. Das erste, Bacchus (Los Borrachos), malte der Künstler 1628/29, also noch vor seiner ersten Italienreise. Das letzte, Merkur und Argus, wurde 1659 vollendet - kurz vor seinem Tod.

Obwohl die Arbeiten wiederholt Gegenstand kunsthistorischer Untersuchungen waren [1], fehlte bislang eine umfassende Analyse, die sie als zusammenhängende Werkgruppe in den Blick nimmt. Die Studie von Hanno Tiesbrummel setzt an dieser Forschungslücke an.

Das Buch teilt sich in acht Kapitel auf. Den Hauptteil bilden sechs binnengegliederte Abschnitte, die jeweils eines der mythologischen Gemälde in chronologischer Abfolge in den Fokus rücken. Eingeleitet wird die Studie durch ein methodisches Kapitel, das den Ansatz des Autors skizziert und einen Überblick über den Forschungsstand bietet. Ein Resümee zieht die Fäden der Einzelanalysen zusammen.

Innerhalb der spanischen Malerei des 17. Jahrhunderts nehmen Velázquez' mythologische Gemälde eine singuläre Stellung ein. Während mythologische Stoffe in der Literatur und insbesondere im Theater des Siglo de Oro weit verbreitet waren, spielen sie in den Bildkünsten jener Zeit eine marginale Rolle. Tiesbrummel konstatiert daher, dass Velázquez' Werke "den einzigen nennenswerten Beitrag Spaniens zur Mythologie" (417-418) im Bereich der Bildkunst darstellen. Zwar fanden sich in den Sammlungen des Madrider Hofes und des Adels zahlreiche mythologische Sujets, doch stammten diese in der Regel von ausländischen Künstlern.

Nicht nur die daraus resultierende Ausnahmeposition von Velázquez' mythologischen Arbeiten hat die Forschung beschäftigt, sondern ebenso, beispielsweise im Falle der Spinnerinnen, seine spezifische Auswahl der Motive aus dem breiten Fundus der antiken Mythologie. Hervorgehoben wurde dabei immer wieder die unkonventionelle kompositorische und ästhetische Gestaltung, die sich deutlich von tradierten Bildlösungen absetzt. Gerade diese Abweichungen haben - je nach methodischer Ausrichtung der Interpretinnen und Interpreten - zu einer Vielzahl divergierender Deutungen geführt. [2]

Tiesbrummel zielt darauf, eine Alternative zu bisherigen Ansätzen zu entwickeln. Dazu beschränkt er sich nicht darauf, die Werke als thematisch zusammenhängenden Komplex zu betrachten, sondern legt besonderen Wert auf eine umfassende Analyse, die nicht nur das "Was (das Thema)", sondern auch das "Wie (die Form)" sowie ein "Drittes", das "Dass [sic!] des Bildes, seine Präsenz", berücksichtigt (18).

Seine Betrachtung basiert auf einer wiederholten, intensiven Auseinandersetzung mit den Gemälden im Original, die möglichst frei von im Voraus formulierten Annahmen und Theorien erfolgt. Die Werke sollen - in Abkehr von vorgeformten Begrifflichkeiten - aus sich selbst heraus bzw. aus der ästhetischen Interaktion des Betrachtenden mit ihnen verstanden werden. Dieser Ansatz ist grundsätzlich produktiv und trägt auch wiederholt bemerkenswerte Früchte, erscheint innerhalb der kunsthistorischen Methodik jedoch weniger neuartig, als der Autor suggeriert. Vielmehr wirkt die Selbstpositionierung als radikale Alternative zu etablierten Verfahren stellenweise rhetorisch überzeichnet. Etwa wenn Tiesbrummel konstatiert, sein Vorgehen sei "anstrengender als die bloße Applikation von allen möglichen Ideen und Theorien auf wehrlose Bilder" (20) oder sein Buch zu einem Beitrag erklärt, um "aus dem konstruktivistischen Gefängnis auszubrechen, in das sich Teile der Geisteswissenschaften manövriert haben." (21)

Tatsächlich zeigt sich diese Ambivalenz auch in der Umsetzung. Selbstbewusst formuliert der Autor seinen Ansatz und schreckt nicht davor zurück, sich kritisch mit bestehenden Begriffen und Deutungen auseinanderzusetzen. Doch nicht alle seiner Ankündigungen werden überzeugend eingelöst. So ist die Kritik am derzeit womöglich übermäßig verbreiteten Begriff der 'Offenheit' (vergleiche 16) durchaus zulässig, eine tragfähige Alternative bleibt Tiesbrummel jedoch schuldig.

Für eine Studie, die sich der konkreten Form der Gemälde besonders verpflichtet erklärt, bleibt die Auseinandersetzung mit Velázquez' Malweise erstaunlich vage. Kunsttechnologische Untersuchungen, die etwa auf Seite 414 erwähnt werden, finden kaum Berücksichtigung. Besonders augenfällig wird dies im Kapitel zu Bacchus, in dem ein ganzer Abschnitt der "intendierten Unstimmigkeit" der beiden Bildhälften gewidmet ist (43-47). Zwar werden Unterschiede in der "Gestaltungsweise" (44) und "Malweise" (51, 53) benannt, doch bleibt unklar, worin diese konkret - über die schematische Gegenüberstellung einer 'hohen' und 'niederen' Sphäre hinausgehend - bestehen.

Auch der zentrale Begriff der "Präsenz", offenbar im Sinne Gottfried Boehms gedacht [3], bleibt unbestimmt. Der damit einhergehende terminologische Apparat wird nicht hinreichend definiert, sodass Begriffe wie "Überpräsenz" (46) oder "Ungleichgewichtigkeit der Präsenzen" (314) inhaltlich vage bleiben.

Die Stärken der Studie liegen in diversen präzisen Beobachtungen und produktiven Deutungsansätzen. Besonders überzeugend gelingt dies in der Analyse der Spinnerinnen (309-316), wo der Autor eindrucksvoll zeigt, dass Velázquez' Bild "nicht nur die einmalige, sondern die andauernde Mitarbeit des Betrachters erfordert" (315), um die einzelnen Bildelemente zu einem Bildganzen zusammenzusetzen, welches sich jedoch niemals auf Dauer fixieren lässt. An dieser Stelle ist eine eingehende Auseinandersetzung des Autors mit der malerischen Gestaltung des Gemäldes positiv hervorzuheben.

Eine auffällige Leerstelle bildet hingegen die Beschäftigung mit den kunsttheoretischen Implikationen dieses Werks. Obwohl Tiesbrummel anmerkt, dass nahezu alle relevanten kunsttheoretischen Schriften der Zeit im Nachlass des Malers nachweisbar sind (vergleiche 414, FN 19), bleibt dieser Aspekt weitgehend unberücksichtigt. Irritierend ist in diesem Zusammenhang das Fehlen des für diese Perspektive grundlegenden Aufsatzes von Verena Krieger [4] in der ansonsten umfangreichen Bibliografie.

Hingewiesen sei schließlich auf die eigenwillige, mitunter pathetische Sprache des Autors. Der Text umfasst diverse Exkurse, die zwar vom breiten Wissenshorizont des Autors zeugen, aber nur lose mit dem Ziel seiner Untersuchung verbunden sind (etwa 300-307 oder 391-394), sowie weitestgehend überflüssige Fußnoten (zum Beispiel 33, FN 81; 39, FN 1; 285, FN 99).

Abschließend betrachtet bietet Tiesbrummels Dissertation einen neuen Zugang zu einer wichtigen Werkgruppe im Œuvre des Diego Velázquez. Wenngleich sein methodischer Zugriff nicht an jeder Stelle überzeugt, führt er dennoch zu diversen produktiven Beobachtungen, die zu weiteren Auseinandersetzungen einladen.


Anmerkungen:

[1] Die einzelnen Kapitel des Buches enthalten jeweils einen Forschungsüberblick zu den Gemälden, denen sie gewidmet sind.

[2] Beispielhaft seien hier die Spinnerinnen herausgegriffen. So sieht Ana Beaumud darin beispielsweise die Darstellung einer Theaterinszenierung, während Verena Krieger es als kunsttheoretisches Manifest Velazquez' interpretiert, das dem neoplatonischen Künstlerideal der florentinischen Kunsttheorie, und jenen von dieser beeinflussten Schriften, entgegensteht. Richard Stapleford and John Potter erkennen in dem Gemälde dagegen eine komplexe allegorische Darstellung, die die dauerhafte Welt der Kunst der flüchtigen Realität entgegenstellt und zudem einen Verweis auf die Bemühungen des Malers enthält, dem Santiago-Orden beizutreten. Vgl. Ana M. Beamud: Las Hilanderas, the Theater, and a Comedia by Calderón, in: Bulletin of the Comediantes 34 (1982), Nr. 1, 37-44; Verena Krieger: Arachne als Künstlerin. Velázquez' Las hilanderas als Gegenentwurf zum neuplatonischen Künstlerkonzept, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 65 (2002), Nr. 4, 545-561 sowie Richard Stapleford / John Potter: Velazquez' Las Hilanderas, in: Artibus et historiae 8 (1987), 159-181.

[3] Wie erwähnt, hat der Rezensent keine klar formulierte Definition dieses für die Studie zentralen Begriffs ausmachen können. Im Textzusammenhang wird meines Erachtens jedoch immer wieder eine Nähe zur Boehmschen Auffassung des Terminus erkennbar.

[4] Krieger 2002, siehe [2].

Rostislav Tumanov