Rezension über:

Catherine Chêne: Le Formicarius de Jean Nider O.P. († 1438). La société chrétienne au miroir de l'Observance. Volume 1. Tradition, sources, enseignements. Volume 2. Édition et traduction (= Micrologus Library; 118), Firenze: SISMEL. Edizioni del Galluzzo 2023, 2 vol., X + 1839 S., ISBN 978-88-9290-282-4, EUR 190,00
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Rezension von:
Cornelia Linde
Historisches Institut, Universität Greifswald
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Cornelia Linde: Rezension von: Catherine Chêne: Le Formicarius de Jean Nider O.P. († 1438). La société chrétienne au miroir de l'Observance. Volume 1. Tradition, sources, enseignements. Volume 2. Édition et traduction, Firenze: SISMEL. Edizioni del Galluzzo 2023, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 10 [15.10.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/10/39080.html


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Catherine Chêne: Le Formicarius de Jean Nider O.P. († 1438)

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Ähnlich wie sein Mitbruder Thomas von Cantimpré (1201-1270/72) einen metaphorischen Spiegel der menschlichen Gesellschaft im Bienenvolk sah, so identifizierte der Dominikaner Johannes Nider (1380/1385-1438) Parallelen zum Ameisenstaat. Sein auf dieser Vorstellung fußender Dialog ist unter dem Titel Formicarius ("Ameisenhaufen") geläufig, findet sich aber auch als Dialogus theologi et pigri de formicarum moralitatibus überliefert. Dieser letztere Titel beschreibt bereits das Format des Textes, der vor allem eine Exempelsammlung bietet, präsentiert sich das Werk doch in Dialogform.

In zwei umfangreichen Bänden widmet sich Catherine Chêne mit Johannes Niders Formicarius einem der bekanntesten Werke der dominikanischen Observanz. Die Publikation teilt sich in eine Studie und eine kritische Edition samt Übersetzung des Textes, den die Herausgeberin auf die Zeit zwischen Ende 1436 und Ende 1437/Anfang 1438 datiert und der somit aus der Zeit kurz vor dem Tode des Autors stammt. Der einleitende erste Band, der mit 700 Seiten den kürzeren der beiden Teile darstellt, zerfällt in drei Abschnitte, die sich respektive dem Autor und seinem Werk, den Quellen sowie dem inhaltlichen Programm des Formicarius widmen.

Im ersten Hauptteil bietet Chêne zunächst einen Überblick über Niders Leben sowie über seine lateinischen und deutschen Schriften. Dafür nimmt Chêne auch eine intellektuelle Einordnung des observanten Ordensreformers Johannes Nider in die sogenannte Wiener Schule (47-50) vor und behandelt seine Rezeption innerhalb des Ordens im 15. Jahrhundert. Kapitel III ("Le formicarius") behandelt Aufbau, Intention und Datierung des Werkes. In Kapitel IV, das den Abschluss des ersten Teils bildet, wird die Überlieferung des Formicarius behandelt, wobei neben den 24 den Text überliefernden Handschriften auch die drei Inkunabelausgaben eingeordnet werden. Illustriert durch Listen mit Binde- und Trennfehlern teilt Chêne sie in Handschriftenfamilien ein. Am Ende des Kapitels werden die Editionsprinzipien beschrieben (142-3).

Der zweite Hauptteil, der den Quellen des Formicarius gewidmet ist, behandelt in drei Kapiteln zunächst zoologische Vorstellungen und Allegorien der Ameisen von Aristoteles bis ins 13. Jahrhundert und erlaubt somit eine Einordnung und Kontextualisierung der Aussagen Niders. Anschließend stellt Chêne die Quellen der von Nider angeführten miracula und exempla vor, deren Besprechung nützlicher Weise stets durch einen Verweis auf die Textedition in Band II ergänzt wird. Folgend werden die von Nider zitierten Quellen in Kürze vorgestellt. Wenig überraschend entpuppte sich die Bibel mit etwa 500 Zitaten (232) als am häufigsten zitierter Text.

In einem separaten Unterkapitel werden zudem die lateinischen und griechischen Quellen der Antike sowie die hebräischen und arabischen Quellen zusammen angeführt, wobei letztere auf Flavius Josephus und Avicenna sowie ein Zitat des Averroes beschränkt sind. Wie sinnig diese Ausgliederung der jüdischen und arabischen Quellen, die natürlich stets in lateinischer Übersetzung von Nider rezipiert wurden, aus mittelalterlicher Sicht ist, kann diskutiert werden, doch für die heutige Forschung stellt sie eine Hilfe dar. In kurzen Darstellungen werden die Quellen bis hin in die Zeit Niders, zu dem Chêne anmerkt, dass er Gedanken aus seinen eigenen früheren Werken im Formicarius aufgreift (244), zusammengefasst.

Der dritte und abschließende Hauptteil des ersten Bandes widmet sich den Inhalten des Formicarius, wobei jedem der fünf Bücher ein Kapitel gewidmet ist. Chêne zieht dabei Parallelen zwischen den verschiedenen Büchern und bietet hilfreiche Querverweise, die bei der thematischen Erschließung einzelner Aspekte unterstützend wirken. Im Appendix findet sich eine Zusammenstellung der Passagen, die die im Text beschriebenen Eigenschaften der Ameisen betreffen, sowie eine Zusammenstellung der miracula und exempla, die auf Ereignisse aus Niders Lebzeiten Bezug nehmen. Nach einer Bibliographie schließt der Band mit einem Personen- und Ortsverzeichnis sowie einem Quellen- und einem Handschriftenverzeichnis.

Band 2 bietet auf über 1.100 Seiten die Edition des Textes mit begleitender französischer Übersetzung. Neben einem kritischen Apparat, in dem neben Varianten auch Marginalien verzeichnet werden, finden sich in einem zweiten Apparat eine Kombination aus apparatus fontium, begleitendem Kommentar und Querverweisen. Wünschenswert wäre es gewesen, wenn der zweite Apparat stets mit der französischen Übersetzung verknüpft worden wäre, sodass auch Leser, die nicht des Lateinischen mächtig sind, von den Anmerkungen hätten profitieren können. Der französische Text jedoch ist lediglich begleitet von Verweisen auf benutzte Übersetzungen von Zitaten oder vereinzelten kurzen Erklärungen zur Übersetzung.

Trotz dieser kleineren Kritikpunkte handelt es sich um eine durch und durch wertvolle Arbeit. Denn mit der vorliegenden Ausgabe liegen alle fünf Bücher von Johannes Niders Formicarius nun erstmalig in kritischer Edition vor. Begleitet wird der lateinische Text von einer französischen Übersetzung, wodurch die Nutzung einer breiteren Leserschaft offensteht. Catherine Chênes Arbeit gesellt sich zu anderen in den vergangenen Jahren erschienenen Ausgaben dominikanischer Texte und erweitert die Bandbreite um ein wichtiges Werk des ausgehenden Mittelalters.

Cornelia Linde