Pia Fuschlberger / Romana Kaske / Susanne Reichlin (Hgg.): Seismographen der Krise. Vertrauen und Misstrauen in frühneuzeitlichen Flugblättern (= Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte; Beiheft 1), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2024, 244 S., 32 Farb-, 5 s/w-Abb., ISBN 978-3-515-13572-6, EUR 49,00
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Vertrauen wird als wertvolles Gut wohl erst fassbar, wenn es schwindet. Krisenzeiten sind ein gutes Beispiel für diese Regel, weil dann gesteigerter Argwohn die Besinnung auf das unter Druck geratene gute Vertrauen schärft - was wiederum thematisiert wird. Die Frühe Neuzeit, in die der vorliegende Sammelband zurückschaut, gilt als formidable Krisenzeit: religiös mit Reformation und Konfessionalisierung, politisch mit der Herausbildung von Nationalstaaten, militärisch mit dem Dreißigjährigen Krieg, gesellschaftlich mit dem Aufstieg des Bürgertums und der Infragestellung der alten Ständeordnung, wirtschaftlich mit neuartigen Finanzregimen, medientechnisch mit Buchdruck und klimatisch mit der sog. Kleinen Eiszeit. In dieser Gemengelage wurden Flugblätter zu einem zentralen Medium der Wahrnehmung und Deutung von Krisenerfahrungen - und damit auch zu einem Prüfstein für Vertrauen, zu Seismographen der Krise.
Der hier anzuzeigende gleichnamige Band gehört in den Kontext der deutschsprachigen Flugblattforschung. Wolfgang Harms und Michael Schilling haben die Gattung vor 50 Jahren als intermediales Text-Bild-Ensemble und als kommunikatives Ereignis profiliert, sie haben illustrierte Flugblätter programmatisch als Quellenkorpus identifiziert, in dem ikonographische Topik, rhetorische Strategien und mediale Selbstreflexion zusammenlaufen. Die Beiträge in Seismographen der Krise beziehen sich auf diese Trias, sie unterscheiden systematisch zwischen Sach- und Medialebene (Vertrauen in einen Gegenstand versus Vertrauenswürdigkeit des Mediums). Nicht, ob ein dargestellter historischer Sachverhalt wahr sei, interessiert, sondern die Bedingungen des Vertrauens, soziologisch und vor allem medial. Diese Verzahnung von ikonographischer Detailarbeit, intermedialer Nachrichtenanalyse und sozialtheoretischer Vertrauenssemantik zeichnet das Anliegen des Buchs aus.
Die Beiträge orientieren sich also an der Leitfrage, wie Vertrauen und Misstrauen in der Frühen Neuzeit diskursiv verhandelt und medienästhetisch inszeniert wurden. Unter der erwähnten Prämisse, dass Krisen die Kontingenz von Vertrauen besonders sichtbar machen, werden illustrierte Flugblätter, aber auch Flugschriften als "Seismographen" der entsprechenden frühneuzeitlichen Erschütterungen in den Blick genommen. Die bildpublizistischen Medienvertreter dokumentieren nicht nur Ereignisse, sondern reflektieren ihre eigene Glaubwürdigkeit, teils affirmativ, teils spielerisch-skeptisch.
Die von den Herausgeberinnen besorgte Einleitung steckt den historischen und begriffsgeschichtlichen Rahmen ab. Die vorgeschlagene historische Semantik von "trawen/vertrawen" zwischen vertikalem Gottvertrauen und horizontalem Menschenvertrauen ist aufschlussreich. Ebenso der Hinweis auf einen soziologischen Vertrauensbegriff, der auf einem Handeln basiert, "bei dem eine 'riskante Vorleistung' bzw. ein 'Vertrauensvorschuss' gegeben wird" (15). Konkretisiert sind diese Setzungen durch das Bemühen der Autorinnen, stets die Historizität von Vertrauenspraktiken zu berücksichtigen. So ist zu bedenken, dass Vertrauen und seine Vulnerabilität in der Frühen Neuzeit unter den Bedingungen einer gesteigerten Kontingenzerfahrung systematisch reflektiert wird.
Die anschließenden elf Beiträge gliedern sich in vier thematische Sektionen, die einen klaren analytischen Korridor für den breiten Materialfächer öffnen: (1) politisch-juridisches Vertrauen und Misstrauen, (2) Vertrauen und Misstrauen im Bereich der Ökonomie, (3) Medienvertrauen - Medienmisstrauen sowie (4) Legitimierung und Delegitimierung von Vertrauen.
In Sektion 1 demonstriert Pia Fuschlberger am pro-schwedischen Flugblatt "Schwedischer Hercules" (1630/31), wie ikonographisch und textlich etablierte Vertrauensmuster - heroische Tugend, Gottvertrauen, Freundschaftstopoi - auf den schwedischen König, Gustav II. Adolf übertragen werden. Dessen behauptete Heerführerqualität wird mit seiner besonderen Gottesbeziehung verknüpft - beides Eigenschaften, die auf Vertrauen basieren. "Als 'Gottes Knecht' ist Gustav Adolf zugleich Vertrauender und Empfänger von Vertrauen." (40) Gustav streitet im epochalen Glaubenskampf somit gleichsam im Auftrag Gottes als miles christianus für die protestantische Konfession. Anna Axtner-Borsutzky und Herfried Vögel untersuchen in der zweiten Fallstudien Richter- und Anwaltsbilder als Rollenmodelle, die bürgerliches Vertrauen in die Obrigkeit stabilisieren sollen, u. a. über biblisch-juristische Autoritätszitate, Memento-Mori-Motivik und die Inszenierung von Legitimität (Röm 13,1). Die Sektion verdeutlicht, wie sehr rechtliche und politische Ordnung nicht allein auf normative Gesetzlichkeit, sondern auf mediale Vertrauenssemantiken angewiesen war.
In Sektion 2 untersuchen Maximilian Bergengruen und Susanne Reichlin zwei ökonomische Vertrauenskrisen. Ersterer analysiert die sog. Kipper- und Wipperzeit (1620-23) als Chiffre für Geldwertzerfall und Obrigkeitskritik, und er deutet Teufelsmotive in zeitgenössischen Flugblättern als codierte Kritik an der obrigkeitlichen Geldpolitik. Die Teufelsikonographie fungiert indes doppelt, sie dient einem moraltheologischem und einem nachrichtenlogischen Zweck, und zwar im Sinne einer Komplexitätsreduktion (Feindbildzuschreibung). Susanne Reichlin zeichnet die Neuverhandlung von Geldwert in Zeiten der Inflation im Spannungsfeld von Obrigkeit und Gottvertrauen nach: ökonomisches Vertrauen und ökonomische Stabilität werden weniger auf abstrakten Märkten als in religiösen und moralischen Koordinaten verhandelt. Beide Beiträge führen vor, wie Flugblätter in ökonomischen Krisen Komplexität reduzieren (Schuld- und Feindbilder), aber gleichzeitig Skepsis gegenüber ihrer eigenen Autorität zulassen.
In Sektion 3 steht die Selbstreflexivität des Mediums Flugblatt im Zentrum. Michael Schilling bündelt Lügen- und Zensurvorwürfe in der sprichwörtlichen Skepsisformel "Wer weis obs war ist" (111ff.) und zeigt, wie das Kleinschrifttum mit Skepsis operiert, statt sie nur abzuwehren; wie Lüge und Wahrheit in kunstvollem Spiel ineinandergreifen. Daniel Bellingradt und Paola Molino analysieren, wie Kriegs- und Wundernachrichten Vertrauen gewinnen, indem sie zugleich Zweifel säen. Und Romana Kaske arbeitet heraus, wie Misstrauen gezielt mobilisiert wird, um das Flugblatt als Kontrollinstanz kollektiver Wahrheitsfindung zu profilieren. Zusammengenommen wird eine doppelte Bewegung erkennbar: Vertrauen, durch Paratexte, Orts/Zeitsignaturen und Autoritätszitate angestrebt, wird durch das kalkulierte Spiel mit Misstrauen (Selbstrelativierung, ironische Frames) generiert. Die Bilanz dieser Sektion akzentuiert eindringlich die Hypothese des Bandes: Vertrauen ist kein statischer Anspruch, sondern ein Verfahren der Darstellung, das situativ hergestellt, getestet und relativiert wird.
In der letzten Sektion thematisieren Maximilian Kinder, Inci Bozkaya und Christopher Bonura (sein Beitrag auf Englisch) Selbstreferenz (Wahrheit versus Vertrauen), Ambiguität der Rede (Sinnbild, Streitgespräch, Allegorie) und prophetische Autorität (Methodius-Tradition, 1683). Geboten wird ein Spektrum an Vertrauens-Arbeit, in dem Autorität als performative Praxis sichtbar wird - stets abhängig von medialen Sicherungen (Topik, Form, Stimme) und gezielter Ambivalenz. Und auch diese Beiträge zeigen, wie sich frühneuzeitliche Flugblätter zwischen prophetischer Autorität, allegorischer Vieldeutigkeit und selbstreflexiver Skepsis bewegen. Vertrauen erscheint als immer prekär, weil es nur im Zusammenspiel von rhetorischer Bekräftigung und gezielter Infragestellung funktioniert.
Der Band gibt wichtige Impulse für die Medien- und Nachrichtengeschichte der Frühen Neuzeit. Die Beiträge vernähen Gattungsfragen (Topik, Bild-Rhetorik) mit der Vertrauenssemantik, und sie plausibilisieren einen Dialog von Frühneuzeit und Gegenwart über das Thema Medienvertrauen. Mit dem Wissen, wie frühneuzeitliche Flugblätter Vertrauen erzeugen, unterlaufen und reflektieren, lassen sich gegenwärtige Debatten über Öffentlichkeit, Informationskrisen und Medienvertrauen anders, und ich meine produktiv reflektieren.
Ein zweifacher Brückenschlag darf als wesentlicher Ertrag des Bandes gelten: ikonographisch-rhetorische Feinanalysen (klassische Bildpublizistik) dienen der Befragung einer sozialtheoretischen Vertrauenssemantik, und es zeigt sich, wie das Ringen um Vertrauen sowie die verhandelten Wahrheits- und Skepsisformen die Produktionsästhetik bestimmen. Die Flugblätter helfen nicht nur, Vertrauen zu stiften, sondern sie sind gezwungen, ihre eigene Glaubwürdigkeit zu performen, oft auch ironisch zu unterlaufen.
Der Band überzeugt, weil er durch die Verbindung von Begriffsgeschichte, Medienanalyse und soziologischer Vertrauensforschung (Simmel, Luhmann) neue Perspektiven auf die frühneuzeitliche Bildpublizistik eröffnet. Das Material (von juristischen Flugschriften über ökonomische Krisenblätter bis zu intermedialen Nachrichtenexperimenten) und der methodische Plural sorgen für Kurzweil. Schließlich geben die Herausgeberinnen einen klaren Leitfaden vor - das Spannungsverhältnis von Vertrauen und Misstrauen -, an den sich die Beiträge halten: trotz thematischer und methodischer Heterogenität bleibt die konzeptionelle Klarheit gewahrt.
Ein marginaler Hinweis: Einzelne Studien (v. a. solche, die sich ikonographisch vertiefen) verbleiben mitunter sehr nah, zu nah am Objekt. Und gelegentlich wünschte man sich eine systematische Querlektüre über die Sektionen hinweg, z. B. eine intensivere Kontrastierung der politisch-juridischen mit den medienkritischen Befunden. Insgesamt ist die Vergleichsperspektive aber präsent, weil die methodische Leitfrage - Vertrauen/Misstrauen als Sucher - immer wieder als Antrieb und Leitorientierung durchschlägt. Der Band gehört nicht nur in das Lektürerepertoire der Kommunikations-, Kultur- und Literaturgeschichte (der Text-Bild-Beziehungen), sondern auch in das der historischen Soziologie des Vertrauens.
Jörn Münkner