Rezension über:

Mireille Schnyder / Leonie Rohner (Hgg.): Standreden. Fünfunddreissig Hinrichtungspredigten als kulturhistorische Quellen (= Schweizer Texte - Neue Folge; Bd. 59), Zürich: Chronos Verlag 2023, 422 S., 35 s/w-Abb., ISBN 978-3-0340-1644-5, EUR 48,00
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Rezension von:
Falk Bretschneider
École des hautes études en sciences sociales, Paris
Redaktionelle Betreuung:
Bettina Braun
Empfohlene Zitierweise:
Falk Bretschneider: Rezension von: Mireille Schnyder / Leonie Rohner (Hgg.): Standreden. Fünfunddreissig Hinrichtungspredigten als kulturhistorische Quellen, Zürich: Chronos Verlag 2023, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 10 [15.10.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/10/36673.html


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Mireille Schnyder / Leonie Rohner (Hgg.): Standreden

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Für die frühneuzeitlichen Riten der Strafvollstreckung spielten die Predigten, die von Geistlichen meist nach vollzogener Hinrichtung vor einem oft zahlreich versammelten Publikum gehalten wurden, eine zentrale Rolle. Sie verliehen der Zeremonie die Züge eines "religiösen Dramas", das - wie Richard J. Evans in seinem Standardwerk zur Geschichte der Todesstrafe schreibt - nicht nur der moralischen Belehrung des Publikums diente, sondern auch das Seelenheil des Übeltäters als reuigen Christenmenschen sicherstellen sollte. [1] In vielen Fällen wurden die Predigten schon vor dem Gang zum Schafott gedruckt, sodass sie während der Strafzeremonie an die Anwesenden verkauft werden konnten. Anschließend fanden sie oft Absatz in Buchhandlungen oder wurden von Kolporteuren auf dem Land verbreitet. In Archiven und Bibliotheken sind zahlreiche Exemplare überliefert, weshalb sie eine bevorzugte Quelle für die Geschichte der Todesstrafe darstellen. Ediert wurden sie bislang jedoch kaum, weshalb die vorliegende Publikation, die 35 solcher Predigten aufbereitet, eine echte Neuerung darstellt. Die ausgewählten Reden stammen allesamt aus der Schweiz und decken den Zeitraum zwischen 1714 und 1856 ab (konkret sechs die Zeit vor 1800, der Rest die Zeit danach) - ein Hinweis darauf, dass Hinrichtungen in der Eidgenossenschaft noch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts in den traditionellen Formen eines öffentlichen Strafrituals vollzogen wurden. Die edierten Texte sind Teil der umfangreichen Sammlung von Urs Herzog, die im Deutschen Seminar der Universität Zürich aufbewahrt wird, an dem auch die Herausgeberin Mireille Schnyder tätig ist; die Publikation erfolgt im Rahmen eines gemeinsamen Projekts zu "Standreden" mit dem Institut für Rechtswissenschaften der Universität.

Die einzelnen Predigten werden ohne weitere Erläuterungen oder Einordnungen zum Kontext des jeweiligen Falls wiedergegeben. Ein Glossar am Ende des Bandes erschließt jedoch schwierige oder unbekannte Ausdrücke, insbesondere aus der Schweizer Volkssprache. Einige wenige Anmerkungen bieten zudem Hinweise auf strafrechtliche Bestimmungen, in den Predigten erwähnte biblische Figuren sowie zitierte Lieder oder Texte. Darüber hinaus sind alle von den Geistlichen herangezogenen Bibelstellen sowie die Standorte der Originaltexte in verschiedenen Schweizer Archiven und Bibliotheken nachgewiesen. Dieser Apparat verdeutlicht, dass die Edition vor allem von literaturwissenschaftlichem Interesse geleitet ist. Wie Philipp Hubmann und Leonie Rohner in ihrer Einleitung hervorheben, liegt der Fokus insbesondere auf der Bedeutung der Hinrichtungspredigten als Quelle für den Kriminaldiskurs im 18. und 19. Jahrhundert. Ihr Horizont ist also nicht die Sozialgeschichte der Todesstrafe (die umfangreiche internationale Forschungsliteratur zu diesem Thema wird in den Fußnoten geflissentlich ignoriert, was selbst für den sonst allgegenwärtigen Michel Foucault gilt, der nicht mit "Überwachen und Strafen", sondern lediglich mit seiner kleinen Schrift "Das Leben der infamen Menschen" zitiert wird), sondern die Geschichte der Kriminologie. Auch bei der Erörterung dieses Forschungsfeldes greifen sie - von den Arbeiten Peter Beckers abgesehen - hauptsächlich auf Publikationen Schweizer Provenienz zurück und orientieren sich an einer weitgehend bekannten Diskursgeschichte, die von der aufklärerischen Kritik der Todesstrafe (Beccaria) bis zur Rolle der Literatur (Schiller) für die Sensibilisierung des Publikums gegenüber der Kriminalisierung der Marginalisierten reicht.

Analysiert werden die edierten Texte in der Einleitung, die über weite Strecken in einem etwas gewöhnungsbedürftigen historischen Präsenz gehalten ist, vor allem aus einer gattungsgeschichtlichen Perspektive heraus. Als ein Teil der Homiletik (Predigtlehre), für den es allerdings kein eigenständiges Lehrwerk gab, unterlagen sie im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert einem spürbaren Wandel: Folgten sie zunächst den stark schematischen Formen einer traditionellen ars moriendi, modernisierten sich die Argumentationsmuster mit der Zeit und thematisierten zunehmend typische Leitmotive wie Armut, Alkoholismus, Arbeitsscheu, Prostitution und Landstreicherei und deren Rolle als kriminogene Faktoren. Damit beteiligten sich die Geistlichen in meist volkstümlichen Worten und vom Schafott herab an einer im gebildeten bzw. wissenschaftlichen kriminologischen Diskurs vorherrschenden Konstruktion "krimineller Identitäten", deren Ursachen vor allem in Erziehungsmängeln und fehlendem religiösen Eifer gesehen wurden. In ihren Argumentationen glichen manche Theologen damit fast schon Kriminologen. Abgeschlossen wird die Einleitung von der eingehenderen Schilderung einer besonderen Standrede mit politischen Implikationen, gehalten 1807 vom Theologen Andreas Tschudi (1778-1812), der als erster nachgewiesener öffentlicher Kritiker der Todesstrafe in der Schweiz gilt und aufgrund seiner eindringlichen Rhetorik, die sowohl die Legitimität als auch die Zweckmäßigkeit der Strafe in Zweifel zog, zum "unbekannten Helden" (27) erhoben wird.

Intensiver freilich, wie bei einer Edition nicht anders zu erwarten, werden die Argumente der Predigten nicht ausgeleuchtet, und auch eine detaillierte Konfrontation ihrer inhaltlichen Struktur mit der kriminologischen Fachliteratur des 19. Jahrhunderts muss weiteren Forschungen überlassen bleiben. Als nicht sehr hilfreich dafür erweist sich, dass die in den editorischen Bemerkungen von Mireille Schnyder gegebenen Hinweise zur Auswahl der Texte recht vage bleiben. Dort heißt es lediglich, die Sammlung solle "ein möglichst breites und vor allem auch für Leser:innen unterhaltsames Spektrum der Hinrichtungspredigten bieten" (33). Die Nähe dieses Anliegens zur Sensationslust der Zuschauer von Hinrichtungen, die nicht nur in einigen der Standreden, sondern auch in der Einleitung des Buches kritisch hervorgehoben wird (14), scheint offenbar nicht bedacht worden zu sein. Das soll jedoch nicht das Verdienst der Publikation schmälern, die erstmals eine größere Auswahl von Hinrichtungspredigen leicht zugänglich macht und so hoffentlich weitere Arbeiten auf dieser empirischen Grundlage anregt bzw. zu einer intensiveren Beschäftigung mit dieser Quellengattung im Studium Anlass gibt.


Anmerkung:

[1] Rituale der Vergeltung. Die Todesstrafe in der deutschen Geschichte, 1532-1987, Berlin / Hamburg 2001, 119.

Falk Bretschneider