Rezension über:

Gabriella Cianciolo Cosentino: Paolo Nestler. Ein Hauch Italien in der Nachkriegsarchitektur, München: Detail Verlag 2024, 235 S., zahlr. Farb-Abb., ISBN 978-3-95553-644-2, EUR 39,90
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Rezension von:
Christoph Hölz
Archiv für Bau.Kunst.Geschichte, Universität Innsbruck
Redaktionelle Betreuung:
Regine Heß
Empfohlene Zitierweise:
Christoph Hölz: Rezension von: Gabriella Cianciolo Cosentino: Paolo Nestler. Ein Hauch Italien in der Nachkriegsarchitektur, München: Detail Verlag 2024, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 9 [15.09.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/09/40234.html


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Gabriella Cianciolo Cosentino: Paolo Nestler

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"Es ist höchste Zeit, Paolo Nestler als wichtigen Protagonisten der deutschen Nachkriegsarchitektur wieder zu entdecken." (Umschlagtext). Zweifellos ist das Gabriella Cianciolo Cosentino mit ihrer 2024 erschienenen, äußerst informativen und lesenswerten Monografie gelungen. Ihre Forschung zu Paolo Nestler (1920-2010) auf der Grundlage des ausgewerteten Nachlasses im Architekturmuseum der TU München war "ihr erstes Forschungsprojekt in Deutschland". (218/219 und 22) Seit April 2022 ist sie Professorin für Architekturgeschichte am Kunsthistorischen Institut (Philosophische Fakultät) der Universität zu Köln.

Die Gliederung der 235 Seiten starken Arbeit beschreibt die Verfasserin selbst so: "Die drei Hauptkapitel des Buchs, die seiner Herkunft, Ausbildung und Lehre, einer Auswahl von Werken, der typologischen Kriterien zugrunde liegen, sowie einigen Schriften und Themen von Interesse gewidmet sind, behandeln die wichtigsten Stationen der Tätigkeit Nestlers als Hochschullehrer und Architekt [...]. Ein Anhang über den Nachlass von Paolo Nestler bildet den Abschluss." (30-31)

Der 1920 in Martinella bei Bergamo/Lombardei geborene Paolo Nestler, Sohn deutscher Eltern, die im Textilgewerbe tätig waren, erhielt seine prägenden Eindrücke im Italien der Zwischenkriegszeit, nicht zuletzt durch die Arbeiten von Gio Ponti (1891-1979). Sein 1939 begonnenes Architekturstudium an der Polytechnischen Schule in Mailand wurde 1940 jäh unterbrochen (28). Als gebürtiger Deutscher leistete er den Kriegsdienst in der deutschen Wehrmacht. Nach schweren Verletzungen konnte er seine Ausbildung 1942 an der Technischen Hochschule in München weiterführen und diese 1948 mit dem Diplom abschließen. Deutschland sollte von nun an seine neue Heimat und sein Hauptwirkungsgebiet bleiben.

Bereits 1949 folgte die Gründung eines eigenen Architekturbüros womit für ihn eine erfolgreiche Karriere begann. Sein Werk umfasst Möbel und Wohnkomplexe, Ausstellungspavillons und -gestaltungen, Einfamilienhäuser, Konferenzsäle und U-Bahn-Stationen. Eine ausgesprochene Leichtigkeit seiner Formensprache italienischer Prägung und sein Bekenntnis zu einer farbenfreudigen Innenraumgestaltung wurden Markenzeichen Nestlers. Ab 1960 bekleidete er den Lehrstuhl für Raumgestaltung und Textilentwurf an der Akademie der bildenden Künste in München. 1978 gelang es, diesen Kurs als eigenen Studiengang Innenarchitektur zu etablieren. Ab 1966 hatte er zudem die Position des Präsidenten der Akademie inne, die er jedoch aufgrund der Proteste und Revolten der Studierenden 1969 vorzeitig aufgab. Als Professor wurde er jedoch erst 1985 emeritiert. Gemeinsam mit seinem Kollegen Sep Ruf (1908-1982), seit 1953 Professor für Architektur und Städtebau an der Akademie, prägte er deren Gesicht über mehr als zwei Jahrzehnte lang und öffnete sie für die abstrakte Kunst. Aufgrund seiner engen Kontakte mit befreundeten bildenden Künstler*innen und nicht zuletzt durch die Ehe mit der Dichterin Maria Dobernigg (1920-2013) stand er Fragen zeitgenössischer Kunst und Kultur stets aufgeschlossen gegenüber. Cianciolo Cosentino gelingt es diesen Kontext anschaulich darzustellen.

Auf die zehnseitige biographische Notiz (26-45) - ergänzt durch eine Kurzbiografie (216-217) - folgt die eigentliche Darstellung der gestalterisch-praktischen Arbeit Nestlers in weiteren acht, typologisch gegliederten Unterkapiteln: Bars, Cafés, Eisdielen und Kinos (48-61), Museen, Ausstellungen und Pavillons (62-85), U-Bahn-Stationen (86-105), Dialektische Integration von Alt und Neu (106-115), Villen und Einfamilienhäuser (116-129), Wohnmodelle und Geschosswohnungsbau (130-157), Projekte für die Vereinten Nationen (158-163) und Banken (164-187). Alle seine Bauten und Innenräume prägte eine ausgesprochene farben- und materialfreudige Italianità, die sie von der zeittypischen Nüchternheit und Marktgängigkeit bundesrepublikanischer Architektur unterscheiden. Leider sind die meisten seiner Arbeiten heute stark verändert oder ganz verloren, wodurch Nestler weitgehend aus dem Blick der Öffentlichkeit verschwunden ist.

Dass der Arbeit ein tabellarisches, vollständiges und chronologisch geordnetes Werkverzeichnis fehlt, macht es dem Leser umso schwerer einen Gesamtüberblick zu gewinnen. Auch sind einige der besprochenen Projekte nur mangelhaft illustriert, so dass der Leser kein vollständiges Bild von Art und Umfang dieser Baumaßnahmen erhält: das Palais Lützow in Wien etwa, wird mit einer einzigen Abbildung dargestellt (108). Die 23 eindrucksvollen Skizzen im Vor- und Nachspann des Buchs, die einen Eindruck von der Entwurfsarbeit Nestlers geben, werden kaum oder gar nicht in den Text integriert und verortet, respektive analysiert. Erfreulicherweise sind die Kapitel aber meist großzügig mit ganzseitigen Neuaufnahmen noch erhaltener Bauten Nestlers durchsetzt (Farbfotografien von Marta Tonelli).

Ein großes Verdienst der Arbeit ist zweifelsfrei das etwas irreführend überschriebene Kapitel "Schriften". Cosentino verweist hier exemplarisch auf fünf Themen, die Nestler in unterschiedlicher Form behandelt hat: "Neues Bauen in Italien: eine Anthologie in Bildern" ist eine 1954 erschienene Publikation, die maßgeblich das Bild der frühen italienischen Nachkriegsarchitektur im Ausland prägte (190-193). 1976 entstand das Buch "Deutsche Kunst seit 1960: Architektur" in Zusammenarbeit mit dem Architekturkritiker Peter M. Bode. Auch diese Arbeit bietet eine souveräne, heute noch überzeugende Auswahl herausragender Bauten in der BRD zwischen 1960 und 1975 (194-197).

Bei seiner Abhandlung "Wahrnehmung, Abstufung, Komposition: die Farbe" handelt es sich hingegen lediglich um ein Vortragsmanuskript von 1978 in dem er die Bedeutung der Farbe kritisch analysierte (206-213). Ein Thema, das ihn leidenschaftlich bewegte und das er auf fast singuläre Weise in Theorie und Praxis verarbeitete.

"Im Spannungsfeld von Architektur und Technik: der Fortschritt und seine Grenzen" titelte ein 1989 gehaltener Vortrag, dessen Manuskript noch im selben Jahr in der Zeitschrift Bank und Markt veröffentlicht wurde (202-205). Darin eröffnet er eine kritische Sichtweise auf die damals einseitig durch Wirtschaft, Wissenschaft, Massenproduktion und Maschinen dominierte Gestaltung der Umwelt. Kunst und Fantasie spielten dabei seiner Ansicht nach eine untergeordnete Rolle. Wie eine Ergänzung dazu lesen sich seine Aussagen über die Bedeutung der Geschichte, wo diese Aspekte viel stärker zum Tragen kommen würden. Gleichwohl warnte er mit "Form als Zeichen: die Bedeutung der Geschichte", einem Lehrveranstaltungsmanuskript von 1981, vor Nostalgie (198-201). Darin wandte er sich gegen eine blinde Postmoderne - seiner Einschätzung nach "eine unkritische Aneignung des Erbes von Formen und Zeichen der Vergangenheit" (198) - und verspottete sie als "Kopistenbanalität". (200) Dennoch schätzte Nestler das Erbe vergangener Epochen zweifellos mehr als die meisten seiner Kolleg*innen. Seine Auseinandersetzung mit Alt und Neu verdient heute vielleicht mehr Aufmerksamkeit denn je.

Wie gekonnt Nestler jedoch mit Vergangenheit und Gegenwart umgehen, sie kombinieren und in Beziehung setzen konnte, bewies er immer wieder in seinen Ausstellungsgestaltungen. Die von ihm auf der 13. Triennale in Mailand 1964 gestaltete deutsche Abteilung wurde mit dem Grand Prix ausgezeichnet. Bis heute unvergessen blieb auch die 1968 in der Münchner Residenz von ihm inszenierte, Maßstab setzende Retrospektive "Ludwig II. und die Kunst", mit der er zur Rehabilitierung des Historismus beitrug.

Vergleiche mit oder wenigstens Hinweise auf andere Architekt*innen als Ausstellungsgestalter*innen, also sowohl Zeitgenossen wie Hans Hollein (1934-2014) und Klaus-Jürgen Sembach (1933-2020) als auch Vorläufer wie Alvar Aalto (1898-1976) und Egon Eiermann (1904-1970) und Nachfolger*innen wie Marie-Luise von Plessen (geb. 1950), verfolgt die Autorin nicht. Auch dies ein Kapitel, das bis heute von der Architekturgeschichte nicht ausreichend untersucht und dargestellt wurde. Vielleicht weist Gabriella Cianciolo Cosentinos Buch über Paolo Nestler aber auch hier den Weg.

Christoph Hölz