Antoni Grabowski: The Craft of History. Turning History into a Discipline in the Twelfth and Thirteenth Centuries (= Knowledge, Scholarship, and Science in the Middle Ages; Vol. 4), Turnhout: Brepols 2025, 299 S., ISBN 978-2-503-61104-4, EUR 100,00
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Um die Frage der mittelalterlichen Historiographie als 'Wissenschaft' war es in den letzten beiden Jahrzehnten eher still geworden. Jetzt überrascht aber Antoni Grabowski mit der These, dass die außerhalb der Artes stehende "history" im 12./13. Jahrhundert von einer Lernhilfe ("teaching aid") zu einer ersthaften Forschung ("a subject of serious inquiry") geworden sei, und zeichnet diese 'Disziplinierung der Geschichte', den Prozess von einem Werkzeug für Theologie und Recht zu einer eigenen Disziplin und von reiner Kompilation zu einem "new type of scholarship", anhand von drei Beispielchroniken nach: Hélinands von Froidment, Alberichs von Troisfontaines (die leider nur unzulänglich ediert ist) und Vinzenz' von Beauvais 'Speculum historiale'. Die fünf Kapitel sind nicht nach den einzelnen Autoren, sondern nach den 'Werkzeugen' der wissenschaftlichen Herangehensweise gegliedert.
Das erste Kapitel ("Compiling History") legt, noch einleitend, gewissermaßen die Grundlagen der Kompilation offen, die man - wie Grabowski zu Recht betont - nicht als minderwertig einschätzen sollte, sondern die einen bewussten Akt der Ordnung darstellt. Er geht an Beispielen aber auch schon dem Umgang seiner Autoren mit ihren Quellen nach. Die Gründe für Abweichungen (bestimmte Handschrift, eigene Interessen) sind nicht immer leicht zu erkennen.
Das zweite Kapitel ("Marginal Scholarship") behandelt mit den "source marks" die Benennung der Quellen (Autoren). Grabowski sieht darin "an important stage in the evolution of the genre" (55) und einen ersten Schritt zur 'Disziplin', die hier dem Modell von Theologie und Recht folgt, auch wenn die Wiedergabe keineswegs immer wortgetreu erfolgt, sondern die Gedanken vermittelt. Während Helinand die Autoren an den Rändern platziert, integriert sie Alberich (nach dem Vorbild des Petrus Lombardus) in den Text. Der Hinweis auf die Quelle dient zugleich als Lektüreempfehlung.
Kapitel 3 ("Directory of Authorities") setzt diesen Prozess fort, indem die Autorennennung zu einer biographischen Notiz ausgeweitet wird. Helinand verweist auf Anfang und Ende der benutzten Chroniken, die Liste der Autoren folgt dem Vorbild Hugos von St. Viktor. Alberich inseriert Angaben zu Otto von Freising. Solche Hinweise benennen gleichermaßen die Quellen, die Autoritäten, sie ermuntern zur Lektüre, dienen, wie Grabowski betont, zugleich aber auch dem Herausheben des eigenen Werks. Jedenfalls sei das mehr als eine "Geschichte der Geschichtsschreibung". Zu Recht verweist er auf die parallele, aber eigene Gattung "De viris illustribus" - Sigebert von Gembloux hat ein solches Werk bekanntlich neben seiner Chronik verfasst -, in denen es tatsächlich aber weit mehr um eine Aufstellung der Werke als um biographische Notizen geht. Helinand benutzt Sigeberts Vorlage für seine Chronik und separiert sie vom Text, Alberich vermischt sie mit dem Text und weitet sie noch aus, Vinzenz wählt daraus aus.
Kapitel 4 ("The Conundrum of Author") führt dieses Verfahren weiter zur Kennzeichnung eigener Teile in Abhebung von der Vorlage (Helinand) oder vom umgebenden Text (Alberich): auctor oder autor (bei Vinzenz actor) schafft einen Selbstbezug, der anzeigt, dass der entsprechende Text original vom Autor stammt, damit für Autorität bürgt und zugleich durchscheinen lässt, dass der Autor eigener Gedanken fähig ist. Auch hier ist die Kennzeichnung neu, während der Sachverhalt seit langem üblich ist. Grabowski beschränkt sich ganz auf die (an sich schon schwierige) Untersuchung der Begriffe. Eine Einbeziehung vielfach vorhandener Ich-Bezüge böte für die Frage noch reichhaltiges Material.
Kapitel 5 ("The Truth is Out There") bildet mit der Wahrheit der Geschichtsschreiber ein Kernstück des Buchs. Zu Recht wendet sich Grabowski gegen den Vorwurf einer mangelnden Kritik mittelalterlicher Chronisten seitens der (hier freilich längst obsoleten) älteren Geschichtswissenschaft. Vielmehr haben selbst "Erfindungen" einen gewissen Wahrheitsgehalt. Wahrheit ist (mit Beda Venerabilis) "das Gesetz der Geschichtsschreibung". (Auch das ist folglich keine hochmittelalterliche Entdeckung.) Überprüfbar sind die Nachrichten der Vorlagen für mittelalterliche Chronisten in der Regel nicht. Nicht selten werden daher verschiedene Versionen nebeneinandergestellt und den Lesern die Entscheidung überlassen. Anderes wird kommentiert (wie in Theologie und Recht). Auch als solche erkannte Fiktionen werden dennoch aufgenommen, weil sie als nützlich erscheinen. Die chronologische Ordnung wird vor allem bei Alberich durch Serien von "Exzerpten" verschiedener Vorlagen trotz der unvermeidlichen Wiederholungen durchlöchert, auch, wie beim Romzug Ottos I. im Jahr 965, weil sie jeweils unterschiedliche Perspektiven verkörpern. Grabowski sieht darin eine Parallele zu Abaelards "Sic et non"-Methode (gleichwohl geht es in der Historiographie nicht einfach um widersprüchliche Deutungen): Autoritäten verbürgen die Wahrheit, sind jedoch selbst nicht unfehlbar; umgekehrt können auch apokryphe Schriften nützliche Informationen enthalten.
Der Wahrheitsfindung dient auch das "careful reading" (nach Grabowski eine weitere Parallele zu Theologie und Recht). Kopistenfehler werden korrigiert, Autoren"fehler" umgedeutet. Wichtig sind die drei circumstantiae der historia bei Hugo von St. Viktor (dessen Einfluss auf die Geschichtsschreibung nach Grabowski von der Forschung unterschätzt wird), vor allem auf Alberich, der, bei strikt annalistischer Ordnung, verschiedene Ären verwendet (was freilich auch an seinen Quellen liegen könnte), zeitliche Bezüge berechnet und seine Quellen hier kontrolliert oder harmonisiert. Die Person als Faktor konzentriert sich auf die Genealogie (das scheint mir allerdings zu eng eingegrenzt), die Orte spielen wieder bei Alberich eine Rolle. Zeit, Person und Raum, so Grabowksi, tragen zur Verlässlichkeit und Wahrheit bei; Chronologie, Genealogie und Geographie sind Hilfswissenschaften der mittelalterlichen Geschichtsschreiber. Während Helinand seine Vorlagen infragestellt und verifiziert, sucht Alberich nach Lösungen der Probleme. Erfolg war hingegen nicht ihnen, sondern der 'Faktenzusammenstellung' des Vinzenz von Beauvais beschieden.
Zusammenfassend betont Grabowski noch einmal den fast revolutionären Wandel, der die Geschichtsschreibung zu einer Disziplin nach dem Standard von Recht und Theologie mache, und er sieht darin ein gesteigertes Selbstbewusstsein der behandelten Autoren wirksam, die sich als solche und nicht als Kompilatoren verstanden haben. Grabowskis Studie lässt an Gründlichkeit und Belegen der behandelten Aspekte nichts zu wünschen übrig und leistet damit einen ausgesprochen wichtigen Beitrag zur Arbeitsweise (einiger) hochmittelalterlicher Geschichtsschreiber.
Gleichwohl bleibt seine These einer "Disziplinierung" der Geschichtsschreibung aus vier Gründen diskussionsbedürftig: Erstens bilden - und das ist ihm selbst bewusst - die behandelten Autoren eher die Ausnahme als die Regel (und Kopisten haben die Autorennennungen nicht selten wieder unterdrückt, wie Grabowski selbst feststellt); sie charakterisieren damit bestimmte Eigenarten, aber nicht zwingend eine Entwicklung. Grabowski selbst stellt fest, dass der Versuch gescheitert ist, weil es für eine akademische Geschichtsschreibung noch keinen Raum gegeben habe, und man sich im späteren 13. Jahrhundert von den Neuerungen wieder abkehrte.
Zweitens misst die These eines Wandels im Hochmittelalter allzu grob an einer eher pauschalen Einschätzung der früheren Historiographie, die keineswegs nur Kompilation war (wie auch die spätmittelalterliche Geschichtsschreibung überwiegend Kompilation blieb). Für alle benannten Aspekte ließen sich auch frühere Beispiele finden. Ein wenig irritiert hat es den Rezensenten, dass manche seiner Aufsätze herangezogen wurden, nicht aber die Monographie über die hochmittelalterliche Geschichtsschreibung, in der manche der Themen, wie das Wahrheitsgebot oder die drei "circumstances der Geschichtsschreibung", schon mehr oder weniger ausführlich angesprochen sind. Das mag noch einmal den Hinweis unterstreichen, dass wenige der in dem rezensierten Buch gemachten Beobachtungen erst im späten 12. und früheren 13. Jahrhundert aufgekommen sind. Das "Neue" müsste daher noch klarer herausgearbeitet werden.
Drittens greift Grabowski leider auf die frühere, irrige Ansicht zurück, dass die Geschichtsschreibung bis dahin eine Subdisziplin der Grammatik und Rhetorik gewesen sei. Das war sie nie, sondern griff auf deren methodisches Reservoir zurück und stand längst vorher schon der Theologie nahe. Im Übrigen sind auch die hier zugrunde gelegten Vorbilder Theologie und Recht ihrerseits im Mittelalter nur bedingt als "Disziplinen" zu verstehen.
Viertens bleibt die Untersuchung auf eher 'formale' Indizien (wie die Nennung der benutzten Autoren) beschränkt. Die These wäre noch durch inhaltliche Analysen zu erhärten. Die Diskussion um eine gewisse 'Vorwissenschaftlichkeit' der mittelalterlichen Historiographie wird daher sicher weiterleben, wenn man sie am Historismus des 19. Jahrhunderts misst. Es sollte vielmehr darum gehen, das spezifische Vorgehen mittelalterlicher Autoren herauszukristallisieren. Genau dazu leistet Grabowski wiederum einen wichtigen Beitrag, indem er die Arbeitsweisen der drei behandelten Autoren gründlich untersucht.
Hans-Werner Goetz