Rezension über:

Sophie Friedl: Demokratie lernen. Der Öffentliche Gesundheitsdienst in Bayern nach dem Nationalsozialismus (= Demokratische Kultur und NS-Vergangenheit in Bayern; Bd. 2), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2024, X + 483 S., 26 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-135093-6, EUR 79,95
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Susanne Greiter
Eitensheim
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Susanne Greiter: Rezension von: Sophie Friedl: Demokratie lernen. Der Öffentliche Gesundheitsdienst in Bayern nach dem Nationalsozialismus, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2024, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 9 [15.09.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/09/39422.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Sophie Friedl: Demokratie lernen

Textgröße: A A A

Mit Sophie Friedls Studie "Demokratie lernen. Der öffentliche Gesundheitsdienst in Bayern nach dem Nationalsozialismus" liegt ein weiterer Band der Reihe "Demokratische Kultur und NS-Vergangenheit in Bayern" vor, in deren Rahmen bereits Rick Tazelaars Untersuchung "Hüter des Freistaats" [1] erschienen ist. Während Tazelaar die Bayerische Staatskanzlei als Schaltzentrale eigenstaatlicher Politik nach 1945 in den Blick nahm, wendet sich Friedl dem öffentlichen Gesundheitsdienst zu, einem Verwaltungszweig, der in der bayerischen Nachkriegszeit in besonderer Weise durch biopolitische Kontinuitäten, medizinische Deutungshoheit und das belastete Erbe der NS-Medizin geprägt war. Auch diese Arbeit durchbricht tradierte Epochengrenzen und stellt nicht normative Erfolgsgeschichte, sondern das Lernen als analytische Kategorie in den Mittelpunkt. Dieser Ansatz erlaubt der Autorin das Verweben der Belastung des Nationalsozialismus mit der Dynamik der Entstehung der deutschen Nachkriegsdemokratie.

Der Mehrwert dieser methodischen Herangehensweise liegt auf der Hand. An die Stelle linearer Fortschrittsnarrative tritt ein differenziertes Modell, das Lernen erster Ordnung als strategische Anpassung und Lernen zweiter Ordnung als grundlegende Umorientierung unterscheidet. Demokratisierung erscheint so nicht mehr als schlichter Gegensatz von Beharrung und Wandel, sondern als komplexer Prozess, in dem Anpassung, Umgehung, informelles Verwaltungshandeln und genuine Neuorientierung ineinandergreifen. Dass Friedl dies auf allen Ebenen der Gesundheitsverwaltung, von den Ministerialreferaten bis zu den Gesundheitsämtern, empirisch nachzeichnet, macht den besonderen Wert der Studie aus.

Die Rücksichtnahme auf eine von katholischen Traditionen geprägte Öffentlichkeit in Bayern führte dazu, dass eugenische Projekte rhetorisch entschärft oder angepasst wurden. Anpassung wirkte hier lernfördernd, indem sie eine neue Sprache der Demokratiekompatibilität erzwang. Gleichzeitig aber lähmte genau diese strategische Anpassung das Lernen zweiter Ordnung, da grundlegende Diskussionen über Menschenwürde, Gleichwertigkeit und die Gewaltgeschichte der NS-Medizin systematisch blockiert wurden. Friedl gelingt es, dieses Spannungsverhältnis von Anpassung und Verhinderung, von dynamischem Informalismus und normativer Stagnation überzeugend sichtbar zu machen.

Besondere Aufmerksamkeit verdienen die Kapitel zur Personalpolitik. Die Studie zeigt, dass sich nach 1945 in Bayern rasch eine Mischung aus Entnazifizierungsrhetorik und faktischer Kontinuität durchsetzte. Netzwerke, Korpsgeist und ein enges Ärzte-Milieu ermöglichten Karrieren ehemaliger NS-Träger und überdeckten strukturelle Reformen. Demokratische Impulse gingen vor allem von Quereinsteigern, Außenseitern oder durch das NS-Regime marginalisierten Personen aus. Friedl kann zeigen, dass es auf das Individuum sehr wohl ankam, nicht nur auf die Generationenzugehörigkeit, sondern auf die konkrete Erfahrungsgeschichte, die Haltung und den politischen Gestaltungswillen Einzelner.

Gerade hier eröffnet sich der Genderfokus als unverzichtbarer Bestandteil der Analyse. Ärztinnen standen nach 1945 durchaus zur Verfügung, wurden aber systematisch diskriminiert und nur im Ausnahmefall in Leitungspositionen berufen. Frauen blieben trotz formaler Gleichheitsgarantien des Grundgesetzes und der Bayerischen Verfassung im Gesundheitsdienst Randfiguren. Friedl macht deutlich, dass diese strukturelle Exklusion nicht nur eine Frage personalpolitischer Benachteiligung war, sondern ein Lernhindernis ersten Ranges darstellte: Wo Diversität unterdrückt und alternative Perspektiven systematisch ausgeschlossen werden, verengt sich das Lernspektrum einer Institution. Heute wissen wir längst, dass die besten Ergebnisse in gemischten Teams erzielt werden - ohne dass freilich dieses Wissen schon in alle staatlichen Institutionen Bayerns Einzug gehalten hätte. Der Blick auf Ärztinnen, ihre Marginalisierung und die toxische Kultur männlicher Netzwerke erinnert an die in Tazelaars Arbeit skizzierte Unsichtbarmachung von Frauen in der Staatskanzlei und führt vor Augen, wie tief diese Muster in den Behörden der Nachkriegszeit verankert waren.

Ein Highlight ist Friedls Rekonstruktion informeller Handlungsspielräume. Auch dies trägt dazu bei, nicht nur formale Vorgaben und institutionelle Strukturen, sondern auch implizite Regeln und Denkstile sichtbar zu machen. Die Studie leistet damit einen Beitrag zur Wissensgeschichte, Verwaltungssoziologie und Demokratietheorie gleichermaßen.

Dass Friedl dabei eine hohe begriffliche Dichte entfaltet, ist eine Herausforderung für die Lesenden, doch wird man reich belohnt. Anstatt das Bild eines defizitären Beamtentums zu reproduzieren, gelingt es ihr, die Ambivalenz des Lernens nachzuzeichnen: Anpassung, Opportunismus und Blockaden einerseits, langsames Einschleifen neuer Normen andererseits. Besonders stark ist die Argumentation dort, wo gezeigt wird, dass auch opportunistische Anpassung dynamische Effekte entfalten und langfristig Umorientierung vorbereiten konnte. Und nicht nur das: Das Eintauchen und akribische Nachzeichnen von Biographien, Netzwerken, Stellenbesetzungen, macht transparent, wie Lernimpulse einzelner zunächst dem Konformitätsdruck gewichen sind, aber ein "grundlegendes Lernen aus der nationalsozialistischen Vergangenheit" Jahrzehnte später zur Entfaltung kam (159). Immerhin, und nicht zuletzt eine Bestätigung dafür, dass die erinnerungskulturelle, wissenschaftliche und von Diskursivität geprägte Bearbeitung der NS-Vergangenheit in Deutschland zurecht in der Welt eine hohe Anerkennung besitzen.

Sophie Friedl hat mit ihrer Studie einen wichtigen Meilenstein der Demokratieforschung nach 1945 vorgelegt. Die Verbindung von methodischer Innovation, empirischer Dichte und sensibler Genderperspektive macht das Buch zu einer herausragenden Untersuchung, die weit über die Geschichte des bayerischen Gesundheitswesens hinausweist. Wie schon Tazelaars Arbeit zeigt auch Friedls Studie, dass die Erforschung der Nachkriegszeit in Bayern mit innovativen methodischen Ansätzen neue Perspektiven eröffnet und spannende Antworten auf die Frage nach Kontinuitäten, Lernprozessen und demokratischer Kultur bereithält.


Anmerkung:

[1] Rick Tazelaar: Hüter des Freistaats. Das Führungspersonal der Bayerischen Staatskanzlei zwischen Nationalsozialismus und Nachkriegsdemokratie, Berlin / Boston 2023. Vgl. hierzu die Rezension in sehepunkte 24 (2024), Nr. 5, https://www.sehepunkte.de/2024/05/38802.html.

Susanne Greiter