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Ronny Grundig: Vermögen vererben. Politiken und Praktiken in der Bundesrepublik und Großbritannien 1945-1990 (= Geschichte der Gegenwart; Bd. 28), Göttingen: Wallstein 2022, 340 S., ISBN 978-3-8353-5169-1, EUR 32,00
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Rezension von:
Morten Reitmayer
Universität Trier
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Morten Reitmayer: Rezension von: Ronny Grundig: Vermögen vererben. Politiken und Praktiken in der Bundesrepublik und Großbritannien 1945-1990, Göttingen: Wallstein 2022, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 9 [15.09.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/09/37771.html


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Ronny Grundig: Vermögen vererben

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Die Geschichte der Institutionen und Praktiken des Erbens, Vererbens und der zeittypischen Vorstellungen darüber lässt sich in ganz verschiedene größere Zusammenhänge einbetten: in die historische Ungleichheitsforschung, die Wirtschaftsgeschichte, die Geschlechtergeschichte, die historische Reichtumsforschung, die Geschichte der Mittelklassen, in denen die meisten Erbfälle, oder in die der Oberklassen, in denen die höchsten Erbfälle anfielen. Ronny Grundig wählt in seiner Dissertation einen anderen Zugang. Er untersucht Praktiken und Politiken des Vererbens in der Bundesrepublik und in Großbritannien nach dem Zweiten Weltkrieg. Dabei richtet er sein Erkenntnisinteresse auf die Regulierung des Vererbens von Vermögen durch das Erbschafts- und Erbschaftssteuerrecht, auf die Auswirkungen dieser Regulierung hinsichtlich der Praktiken des Erbens und Vererbens sowie auf die Folgewirkungen für die soziale Ungleichheit - letzteres allerdings nicht systematisch, sondern nur fallweise.

Zur Beantwortung seiner Leitfrage stützt sich Grundig u. a. auf die Nachlassakten des Amtsgerichts Neukölln von 1962, die knapp 1600 Todesfälle umfassen und eine lokale Tiefenbohrung erlauben, sowie auf etwa 600 Erbschaftssteuerakten aus Finanzämtern in Hessen, Berlin und Niedersachsen. Die Arbeit ist systematisch gegliedert in einen chronologischen Abschnitt zur Nachkriegszeit, ein Kapitel über Steuerpolitik sowie je einen Abschnitt über Erben und über Vererben.

Bemerkenswerterweise setzten die Besatzungsmächte in Nachkriegswestdeutschland zunächst eine Annäherung an die anglo-amerikanische Nachlassbesteuerung durch, was wegen des Wegfalls der für das deutsche Erbschaftssteuerrecht charakteristischen steuerlichen Privilegierung naher Verwandter und durch die damit verbundene starke Erhöhung der Steuersätze auf Ablehnung in der Bundesrepublik stieß. Allerdings zeigt Grundig auch, dass die Finanzpolitik der jungen Bundesrepublik nicht zögerte, ihre wiedergewonnene fiskalpolitische Souveränität zur Rückabwicklung dieser Reform zu nutzen und den Status der 1920er Jahre wiederherzustellen. Der Primat lag auf der Kapitalbildung der Unternehmen zur steuerlichen Unterstützung wirtschaftlichen Wachstums. Die langfristigen Folgen der erbschaftssteuerlichen Schonung von Unternehmensbesitz, nämlich die Verschärfung der Vermögensungleichheit, spielten seinerzeit keine Rolle.

In Großbritannien verfolgte die 1945 siegreiche Labour-Party letztlich divergierende fiskalpolitische Ziele: Einerseits sollten die Einnahmen aus der erhöhten Erbschaftssteuer Spielräume für Umverteilungsmaßnahmen schaffen, andererseits eröffnete das Bestreben, Kulturgüter durch deren Überschreiben auf den National Trust den breiten Massen zugänglich zu machen, große Möglichkeiten für Steuervermeidungspraktiken, die den Ertrag der Erbschaftssteuer minderten. Grundig macht darauf aufmerksam, dass im Zentrum des englischen Erbschaftsrechts der Wert des Nachlasses als solcher stand, der besteuert wurde, in Deutschland hingegen die Frage der Gerechtigkeit gegenüber den verschiedenen Graden der Erbinnen und Erben. Dies hatte zur Folge, dass Erbschaftssteuern in Großbritannien eher im Kontext von Ungleichheit und Leistungsfähigkeit diskutiert wurden, während in Westdeutschland der Verweis auf das Familienprinzip den Möglichkeiten der Umverteilung durch Erbschaftssteuern enge diskursive Grenzen setzte. Erst zu Beginn der 1970er Jahre setzten sich in beiden Ländern diejenigen Stimmen durch, die eine höhere Besteuerung ererbter Vermögen forderten. Grundig zeichnet detailliert die verschiedenen Positionen und die Auseinandersetzungen nach, die zur Erbschaftssteuerreform der sozial-liberalen Koalition 1973 führten. Dass große liberale Vordenker, von Alexander Rüstow und Wilhelm Röpke bis hin zu John Stuart Mill, das Prinzip Vermögensvererbung und damit die Ungleichheit individueller Startchancen für unvereinbar mit einer liberalen Gesellschaftsauffassung hielten und als Überbleibsel des Feudalismus kritisierten, dürfte heute weitgehend vergessen sein. Dabei kommt Grundig zu dem ernüchternden Urteil, dass die Erwartungen hinsichtlich einer Umverteilung der Vermögen in Westdeutschland kaum erfüllt wurden.

In den 1980er Jahren rückte dann die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit familiengeführter Unternehmen als Bezugspunkt der Erbschaftssteuergesetzgebung ins Zentrum der Diskussion. Neoliberale bzw. neokonservative Vorstellungen, die auf mehr oder weniger radikale Entlastungen der Wohlhabenden - hier: Empfänger großer Erbschaften - zulasten kleiner und mittlerer Erbinnen und Erben setzten, fanden nun verstärkt Gehör in der Politik. Gerechtfertigt wurde dies einmal mehr mit dem vermeintlichen Schutz von Familien und familiengeführten Unternehmen. Tatsächlich, so Grundig, konnte niemals ein empirischer Beweis für die Behauptung erbracht werden, dass Familienunternehmen aufgrund von Erbschaftssteuern aufgegeben werden mussten.

In Großbritannien dagegen gab es zahllose Möglichkeiten, Erbschaftssteuern zu umgehen. Erstens entstand im britischen Finanzsektor eine Steuervermeidungsindustrie, die die rechtlichen Möglichkeiten kannte und die finanziellen Wege fand, um auf legalem Wege die Erbschaftssteuern zu vermindern. Zweitens war das britische Nachlasssteuerrecht ein derartiger Flickenteppich, und die Gesetze waren derart unpräzise formuliert, dass es verhältnismäßig leichtfiel, sie zu umgehen. Und drittens schließlich existierten zahlreiche britische Steuerparadiese wie die Kanalinsel Jersey, aber auch die Bahamas, wohin man seinen Wohnsitz zum Zweck der Steuervermeidung verlegen konnte. Eine der treibenden Kräfte hinter dem Ausbau des weitverzweigten Netzwerks dieser Steuerparadiese war übrigens die Bank von England. Die Labour-Regierung unter Harold Wilson stellte dann Mitte der 1970er Jahre das britische Erbschaftssteuerrecht mit der Capital Transfer Tax auf völlig neue Grundlagen, einschließlich drastischer Erhöhungen der Steuersätze, doch machten die Konservativen dies in den 1980er Jahren wieder rückgängig, sodass selbst Riesenvermögen wieder weitgehend steuerfrei vererbt werden konnten.

Im dritten Kapitel, "Vererben", gelangt Grundig zu dem überzeugenden Schluss, nach dem Zweiten Weltkrieg sei in den Praktiken des Vererbens eine Verschiebung von der Generationensolidarität hin zur Partnerschaftssolidarität erfolgt, eine Verpartnerlichung des Vererbens gewissermaßen. Dabei blieben die rechtlichen Bestimmungen noch länger einem dynastischen Familienverständnis verhaftet. Allerdings erhielten die Söhne beim Erben immer noch häufiger Betriebsanteile (wenn vorhanden), während die Töchter eher liquide Mittel oder Immobilienbesitz erbten. Unternehmerfamilien errichteten immer wieder Familienstiftungen, deren Zweck - neben der Vermeidung von Erbschaftssteuern - sich dahingehend wandelte, dass weniger die Versorgung mehr oder weniger bedürftiger Familienmitglieder im Vordergrund stand als vielmehr der dauerhafte Erhalt des Unternehmens. Meistens enthielten diese Stiftungen deshalb Vorschriften, die den Einfluss der Erbinnen und Erben einschränkten, wie es besonders beim Krupp-Konzern zum Ausdruck kam. Gemeinnützig waren diese Familienstiftungen dabei nur selten. Ob dies wirklich einen Bruch mit dem bürgerlichen Familienbild darstellte, bleibt aber offen; Grundig diskutiert diese These Michael Schellenbergs nicht abschließend. Die Steuerfreiheit dieser Familienstiftungen endete übrigens erst 1974. Seitdem greifen vor allem superreiche Unternehmerfamilien zu komplexen Stiftungsmodellen, um Steuervorteile mit den eigenen Zielen der Unternehmensgovernance zu verbinden. Grundig ist sicher zuzustimmen, dass diese Familienstiftungen zur Einkommens- und Vermögensungleichheit in der Bundesrepublik beitragen. Somit kann man Grundigs Fazit nur beipflichten, dass diese Ungleichheit aus der Geschichte der Vermögensvererbung erklärt werden kann.

In beiden Ländern kam es nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem Wandel des Familienbildes, das dem Erbschaftsrecht zugrunde lag. Davon profitierten zum einen uneheliche Kinder, denen nun ein erbrechtlicher Anspruch gegenüber dem Vater gewährt wurde. Zum anderen wurde die erbrechtliche Stellung überlebender Ehegattinnen und -gatten verbessert, weil das Modell der ehelichen Zugewinngemeinschaft dasjenige der Gütertrennung ablöste und in Großbritannien wie in der Bundesrepublik die Partnerinnen- und Partnersolidarität die Generationensolidarität als bestimmendes Element der Vermögensvererbung ablöste.

Mit der Einbettung seiner Untersuchung der Vermögensvererbung in die Geschichte der Vorstellungen von Familien in zwei modernen westlichen Gesellschaften hat Grundig so eine äußerst wertvolle Studie über die materiellen Dimensionen familiären Zusammenlebens und Zusammenhalts in unterschiedlichen Klassenlagen geschrieben.

Morten Reitmayer