Sonja Matter: Das sexuelle Schutzalter. Gewalt, Begehren und das Ende der Kindheit 1950-1990, Göttingen: Wallstein 2022, 408 S., ISBN 978-3-8353-5306-0, EUR 34,00
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Seit einigen Jahren wächst in der Zeitgeschichte das Interesse an nicht-erwachsener Sexualität. Ein Grund hierfür dürften die zahlreichen 'Missbrauchsskandale' um Fälle systematischer sexueller bzw. sexualisierter Gewalt in pädagogischen Einrichtungen und den Kirchen sein, zu denen mittlerweile einige sogenannte Aufarbeitungsstudien vorliegen. [1] Dabei geht es immer um die Frage, wo die Grenze zwischen erwachsener und nicht-erwachsener Sexualität verläuft und wie damit umzugehen ist. Historisch betrachtet kam es diesbezüglich zu einer anhaltenden Verrechtlichung, die seit dem späten 19. Jahrhundert die generationale Ausdifferenzierung 'moderner' Sexualität begleitete und beförderte. Konkret betraf das die Einführung eines Mindestalters für die Eheschließung sowie eine Altersdifferenzierung des Strafrechts bei sogenannten Sittlichkeitsvergehen. Während dies für diverse Länder bereits erforscht wurde [2], stand eine entsprechende Untersuchung für den deutschsprachigen Raum noch aus. Diese Forschungslücke geschlossen zu haben ist ein Verdienst der Publikation von Sonja Matter, die auf ihrer Habilitationsschrift an der Universität Freiburg beruht.
Matter begreift die Geschichte des sexuellen Schutzalters als komplexen und konflikthaften Aushandlungsprozess, der sich auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene entfaltete. Dabei sei es nie nur um ein individuelles Recht, sondern zugleich um die Errichtung respektive den Erhalt einer bestimmten Ordnung der Gesellschaft gegangen. Matters Erkenntnisinteresse gilt vorrangig zwei Aspekten: erstens der Ausübung, Erfahrung und Sanktionierung sexueller Gewalt sowie zweitens der Disziplinierung von Minderjährigen durch das sexuelle Schutzalter. Über Letztgenanntes will Matter Ambivalenzen von Freiwilligkeit und Zwang akzentuieren und empirisch ausloten. Das Quellenkorpus setzt sich aus unterschiedlichen Beständen zusammen, die von Parlamentsprotokollen über rechts- und sexualwissenschaftliche Abhandlungen bis zu Fallakten von Strafgerichtsprozessen reichen. Wenngleich der Fokus auf Österreich nach 1945 liegt, werden globale Entwicklungen und transnationale Verflechtungen ebenso berücksichtigt wie die Anfänge des Diskurses.
Gegliedert ist die Arbeit chronologisch in drei Teile. Im ersten werden die Anfänge der rechtlichen Kodifizierung bis zur Gründung der österreichischen Zweiten Republik erörtert. So habe das im Laufe des 19. Jahrhunderts entstehende moderne Strafrecht eine erste, implizite Variante des Schutzalters geschaffen, indem es zwischen sogenannten Sittlichkeitsvergehen an Erwachsenen und an Kindern unterschied. Im österreichischen Strafgesetzbuch von 1852 lag die Grenze bei 14 Jahren, allerdings nur für Mädchen. An der Aussparung von Jungen, der Kriminalisierung sexueller Beziehungen zwischen Männern und der faktischen Bindung der Schutzbedürftigkeit an den sittlichen Lebenswandel zeige sich laut Matter die (Re-)Produktion einer heteronormativen Geschlechterordnung. Neuen Aufwind erfuhr die Debatte Ende des 19. Jahrhunderts mit der Frauen- sowie der Kinderschutzbewegung. In der Zwischenkriegszeit verlagerten sich diese Bestrebungen auf die internationale Ebene, wo sich der Völkerbund der Thematik annahm und für eine Altersgrenze von 12 Jahren warb. Gleichwohl sei das Heirats- und Schutzalter als Zivilisationsmarker ebenso zur Abwertung nicht-westlicher Gesellschaften genutzt worden. Die Nachkriegszeit habe eine intensive Auseinandersetzung um Kindesmissbrauch gesehen. Weniger bekannt dürfte sein, dass Expert:innen besonders vor heimkehrenden Soldaten warnten, die aufgrund ihrer Brutalisierung im Krieg überproportional zu Straftaten neigen würden, was auch und gerade Unzucht mit Kindern betreffe.
Der zweite Teil widmet sich dem Zeitraum von 1950 bis 1970 und richtet den Blick auf die lokale Ebene. Die Analyse von Fallakten des Kreisgerichts St. Pölten zeigt auf, dass die Akteure über einen Spielraum verfügten, die rechtlichen, politischen und wissenschaftlichen Normierungen des Schutzalters unterschiedlich zu interpretieren. Die reichhaltigen und differenzierten Befunde können hier nur punktuell wiedergegeben werden. Generell offenbaren die analysierten Prozesse, dass es Kinder und Jugendliche schwer hatten, mit ihren Erfahrungen vor Gericht Gehör zu finden. Vielmehr stand die Perspektive des - in aller Regel männlichen - Angeklagten im Vordergrund, der sich oftmals selbst als Opfer inszeniert habe. Einen entscheidenden Faktor für das Strafmaß bildete weiterhin die sogenannte Sittlichkeit der Mädchen und jungen Frauen. Wurde diese in Zweifel gezogen, konnten die Beschuldigten selbst bei Gruppenvergewaltigungen mit einem milderen Urteil rechnen. Umgekehrt wurden minderjährige Opfer aufgrund vermeintlicher sexueller Verwahrlosung in eine Fürsorgeeinrichtung zwangseingewiesen. Anders gelagert waren Fälle, bei denen Mädchen unter 14 Jahren darauf pochten, freiwillig eine Beziehung mit einer älteren Person eingegangen zu sein. Dies lasse sich Matter zufolge auch so deuten, dass (Arbeiter-)Jugendliche ihr Recht auf sexuelle Selbstbestimmung gegen bürgerliche Moralvorstellungen verteidigt hätten.
Teil drei zoomt wieder auf die nationale und internationale Ebene und fragt nach der widersprüchlichen Rolle "sexuelle[r] Liberalisierung" (151) für die Aushandlung des Schutzalters. In Auseinandersetzung mit der Forschung arbeitet Matter Gemeinsamkeiten und Unterschiede für Österreich heraus. Ähnlich wie im westdeutschen Fall rang man in den 1960er Jahren um eine Reform des Sexualstrafrechts. Dies habe in Österreich jedoch in einem gesellschaftspolitisch konservativeren Klima stattgefunden. So seien Forderungen nach umfassender Liberalisierung bis hin zur "Befreiung" (336) kindlicher Sexualität, wie sie in Teilen der Sexualwissenschaft und der westdeutschen Neuen Linken laut wurden, kaum auf Resonanz gestoßen. Abschließend blickt Matter auf die divergierenden Bestrebungen von Pädophilen- und autonomer Frauenbewegung. Letztere habe mit ihrer Skandalisierung der Normalität sexueller Gewalt in der Familie zu einem Paradigmenwechsel beigetragen: "Die Vorstellung, wonach Kinder durch sexuelle Misshandlung 'verdorben' würden, wurde in Abrede gestellt und stattdessen das Traumatisierungspotenzial von sexueller Gewalt im Kindheitsalter hervorgehoben" (333). Erst vor diesem Hintergrund begann der österreichische Staat Mitte der 1980er Jahre im Bereich der Prävention tätig zu werden.
Sonja Matter hat eine wichtige, sehr gut zu lesende Studie zur Geschichte nicht-erwachsener Sexualität vorgelegt. Besonders hervorzuheben ist die Analyse der Prozessakten, bei der sie nicht nur die konkreten Aushandlungspraktiken rekonstruiert, sondern zu neuen Erkenntnissen über die Rechtspraxis und die Aneignung wissenschaftlichen Wissens gelangt. Im Hinblick auf zukünftige Forschungen sind drei Punkte anzumerken. Erstens sollte die Begriffsgeschichte eingehender erörtert und nicht vorschnell "Schutzalter" mit "age of consent" [3] gleichgesetzt werden. Zweitens betont Matter zu Recht die Wirkmacht des Trauma-Konzepts für den grundlegenden Wandel in der Wahrnehmung sexueller Gewalt. Dies gilt es in seiner Beziehung zum 'Psychoboom' und der fortschreitenden Therapeutisierung seit den 1970er Jahren stärker zu problematisieren. Und drittens ließe sich die Ambivalenz noch besser herausstellen, wenn man konsequenter nach der Produktivität des Diskurses über das "sexuelle Schutzalter" fragt und dessen Regulierung in eine umfassende Geschichte des Selbst einbindet.
Anmerkungen:
[1] Vgl. unter anderem Bernhard Frings / Thomas Großbölting / Klaus Große Kracht / Natalie Powroznik / David Rüschenschmidt: Macht und sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche. Betroffene, Beschuldigte und Vertuscher im Bistum Münster seit 1945, Freiburg im Breisgau 2022; Lena Haase / Lutz Raphael: Sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen im Bistum Trier in der Amtszeit Bernhard Steins (1967-1981). Zwischenbericht des Projekts: Sexueller Missbrauch von Minderjährigen sowie hilfs- und schutzbedürftigen erwachsenen Personen durch Kleriker/Laien im Zeitraum von 1946 bis 2021 im Verantwortungsbereich der Diözese Trier: eine historische Untersuchung, Trier 2022; Jens Brachmann: Tatort Odenwaldschule. Das Tätersystem und die diskursive Praxis der Aufarbeitung von Vorkommnissen sexualisierter Gewalt, Bad Heilbrunn 2019.
[2] Vgl. zum Beispiel Ishita Pande: Sex, Law, and the Politics of Age. Child Marriage in India, 1891-1937, Cambridge 2020; Stephen Robertson: Age of Consent Law and the Making of Modern Childhood in New York City, 1886-1921, in: Journal of Social History 35.4 (2002), 781-798.
[3] Matthew Waites: The Age of Consent: Young People, Sexuality and Citizenship, Basingstoke 2005.
Jens Elberfeld