Marita Krauss / Erich Kasberger: Traum und Albtraum. Feldafing im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit, München: Volk Verlag 2024, 504 S., ISBN 978-3-86222-504-0, EUR 39,90
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1935 stellte eine italienische Militärdelegation über die Schülerschaft einer Internatsschule in Feldafing am Starnberger See fest: "In der Schule finden sich die Enkel Uhlands, Fichtes und Humboldts, sowie der Sohn Streichers, dem Anführer der nazistischen Antisemiten." Gemeint war die ein Jahr zuvor von SA-Chef Ernst Röhm gegründete NSD-Oberschule Starnberger See, die später in "Reichsschule der NSDAP" umbenannt wurde. Sie war keine gewöhnliche Schule, sondern eine Einrichtung mit dem Anspruch, künftige Führungskräfte des Regimes zu formen - und sie behauptete dabei ihre Eigenständigkeit gegenüber anderen Ausleseschulen wie den Nationalpolitischen Erziehungsanstalten (NPEA) und den Adolf-Hitler-Schulen (AHS).
Marita Krauss und Erich Kasberger haben dieser besonderen Institution und ihrem Umfeld nun eine umfassende Studie gewidmet. In "Traum und Albtraum" richten sie ihren Blick nicht nur auf die Reichsschule, sondern auf das Dorf Feldafing - ein Ort, der während der NS-Zeit durch seine Funktion als Standort einer Eliteschule in besonderer Weise in ideologische, soziale und politische Entwicklungen eingebunden war. Mit ihrer lokalhistorischen Studie gelingt es Krauss und Kasberger, exemplarisch Strukturen und Prozesse des 'Dritten Reichs' sichtbar zu machen, ohne die Spezifik des Orts aus dem Blick zu verlieren.
Das reich bebilderte Buch gliedert sich in fünf Kapitel und richtet sich gleichermaßen an Fachhistoriker wie an interessierte Laien. Im ersten Teil wird die Entwicklung Feldafings seit dem 19. Jahrhundert nachgezeichnet. Es folgen Kapitel zur Machtübernahme durch die NSDAP, zur Rolle der evangelischen und katholischen Kirche, zu Formen des Widerstands und zu den Mechanismen von Verfolgung. Besonders eindrücklich ist hier die Darstellung von Zwangssterilisationen und der Ermordung von Euthanasieopfern sowie der Verfolgung jüdischer Feldafinger Bürgerinnen und Bürger. Auch das KZ-Außenlager des Konzentrationslagers Dachau, das auf Feldafinger Gebiet errichtet wurde, wird thematisiert. Dort mussten Zwangsarbeiter unter anderem Bauten für die Reichsschule errichten.
Den inhaltlichen Schwerpunkt bildet die Auseinandersetzung mit der Reichsschule der NSDAP. Krauss und Kasberger rekonstruieren die Gründungsgeschichte, die Aneignung von Grundstücken durch die Partei und die bauliche Entwicklung ebenso wie die pädagogische Praxis. Besondere Aufmerksamkeit gilt dem Schulleiter Julius Goerlitz, der mit großem Engagement den ideologischen und strukturellen Ausbau der Einrichtung vorantrieb. Die Autoren gewähren Einblicke in Auswahlverfahren für Lehrkräfte, in Unterrichtsinhalte sowie Erziehungsideale und beschreiben das zunehmend spannungsreiche Verhältnis zur Kirche. So zeigen sie etwa, wie gezielt regimetreue Religionslehrer ausgewählt wurden, der Religionsunterricht später ganz abgeschafft wurde und kirchliche Veranstaltungen durch Schüler der Reichsschule gezielt gestört wurden.
Im letzten Kapitel wird das nach Kriegsende auf dem Gelände der ehemaligen Reichsschule eingerichtete Displaced Persons-Camp untersucht, das bis in die 1950er Jahre bestand. Auch hier gelingt es den Autoren, neue Perspektiven zu eröffnen - etwa durch Berichte ehemaliger Bewohner und deren Nachkommen sowie alteingesessener Feldafinger. Besonders hervorzuheben ist die breite und zum Teil neue Quellenbasis: Neben Meldebögen, Gästebüchern und Entnazifizierungsakten fließen auch Schulpublikationen wie Jahresberichte und der "Feldafinger Beobachter" ein. Hinzu kommen Zeitzeugenberichte, die "Feldafinger Briefe" ehemaliger Schüler sowie Interviews mit Bewohnern des DP-Camps und ihren Angehörigen.
Ein zentraler Befund ergibt sich aus der Analyse eines Samples, in dem Krauss und Kasberger die Mitgliedschaften in NS-Organisationen in Feldafing mit denen in der Nachbargemeinde Pöcking vergleichen - zu der sie bereits eine Vorgängerstudie vorgelegt haben. Der Unterschied beträgt lediglich 4,6 Prozentpunkte, was die mediale Darstellung Feldafings als besonders "braunes Dorf" (107) empirisch relativiert.
Darüber hinaus vertiefen Krauss und Kasberger zentrale Aspekte ihrer Darstellung immer wieder durch ausführlich ausgearbeitete Profile, durch die das Handeln einzelner Akteure besonders plastisch nachvollziehbar wird. So entstehen dichte biografische Skizzen etwa zum Schauspieler Hans Albers, zum NSDAP-Ortsgruppenleiter Brubacher oder zum Widerständler Günther Caracciola-Delbrück. Auch die Rolle des Schulleiters Julius Goerlitz wird in einem solchen Profil herausgearbeitet, was dessen zentrale Bedeutung für die Entwicklung und ideologische Ausrichtung der Reichsschule verdeutlicht. Besonders aufschlussreich sind die Porträts ehemaliger Schüler: etwa Adolf Martin Bormann, Sohn von Hitlers Sekretär Martin Bormann, oder Alfred Herrhausen, der später als Vorstandssprecher der Deutschen Bank von der Roten Armee Fraktion ermordet wurde.
Traum und Albtraum leistet einen wichtigen Beitrag zur historischen Bildungsforschung. Gerade weil die Forschung zur Reichsschule lange von der zentralen Arbeit zu den Ausleseschulen von Harald Scholtz geprägt war, ist die mikrohistorische Tiefenbohrung der Autoren besonders verdienstvoll. Sie verbindet Institutionengeschichte mit Bildungsgeschichte und beleuchtet auch die Nachwirkungen über das Jahr 1945 hinaus, etwa im Hinblick auf die Entnazifizierung des Lehrkörpers und die weiteren Lebenswege der Schüler.
Gleichwohl bleibt eine Frage offen: Wurde der programmatische Anspruch eingelöst, eine künftige Elite "aus allen Schichten des Volkes" (9) zu formen? Oder blieb die Reichsschule - wie das eingangs zitierte Urteil der italienischen Delegation nahelegt - einer intellektuellen und politischen Elite vorbehalten? Das Thema der sozialen Herkunft wird zwar angerissen, jedoch nicht systematisch ausgeleuchtet. Hier hätte sich die Rezensentin eine vertiefte Analyse der sozialen Rekrutierung und Milieuzugehörigkeit der Schülerschaft gewünscht.
Insgesamt legen Marita Krauss und Erich Kasberger mit "Traum und Albtraum" eine eindrucksvolle Studie vor, die weit über eine klassische Lokalgeschichte hinausgeht. Die Verbindung von strukturgeschichtlicher Analyse, biografischen Zugängen und quellenkritischer Präzision macht das Buch zu einem wichtigen Beitrag zur Erforschung von Eliteschulen im NS-Staat und ihrer lokalen Verankerung. Mit der Einbeziehung der Nachkriegszeit und der Darstellung des DP-Camps schärfen die Autoren zugleich das Bewusstsein für erinnerungspolitische Überlagerungen und Neubewertungen historisch belasteter Orte.
Jana Wolf