Catherine Levesque: Jacob van Ruisdaels Ecological Landscapes (= Visual and Material Culture, 1300-1700; 53), Amsterdam: Amsterdam University Press 2024, 236 S., e-book, ISBN 978-90-485-5891-9, EUR 133,99
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Bei Betrachtung des umfangreichen Œuvres des Landschaftsmalers Jacob van Ruisdaels (1628/29-1682) drängt sich schnell der Eindruck auf: Wer ein Werk kennt, kennt alle. So passiert es nur allzu leicht, dass man an den zahllosen Dünenlandschaften, Waldbildern und Wasserläufen vorübergeht, ohne ihnen einen genaueren Blick zu würdigen. Catherine Levesque lädt in ihrer Studie Jacob van Ruisdael's Ecological Landscapes jedoch nicht nur dazu ein, genauer hinzusehen; sie zeigt ferner auf, wie präzise der Maler die Natur beobachtet hat. Seine Malerei wird so zur 'Anleitung zum genauen Hinsehen' - einen Zugang, den Levesque als "ökologische Leistung" (31) wertet. [1] Den Begriff des Ökologischen versteht sie dabei in seinem ursprünglichen Sinn: als Auseinandersetzung mit den Beziehungen zwischen Lebewesen und ihrer Umwelt. [2] So vermeidet Levesque eine anachronistische Übertragung heutiger Debatten auf die Frühe Neuzeit und zeigt stattdessen, wie Ruisdaels Werke ein historisches Umweltwissen sichtbar machen, das sich gerade in der künstlerischen Auseinandersetzung mit Naturprozessen ausdrückt. Ökologisch seien Ruisdaels Bilder somit insofern, als sie durch seine "Aufmerksamkeit für die Komplexität bestimmter Umgebungen" (20) und das Bemühen, sie zu verstehen, geprägt sind (74). Das Ergebnis sind "fiktive Landschaften, die verschiedene Arten von Orten als ein komplexes Palimpsest" (21) präsentieren, in denen das Unberührte und das Bearbeitete, das Natürliche und das Technische untrennbar miteinander verbunden sind (22).
Levesques Studie ist in fünf Kapitel gegliedert, die sich jeweils einem landschaftlichen Thema widmen: Dünen, Kornfelder, Ruinen, Gewässer und Wälder bzw. Sümpfe. Jedem Kapitel ist ein kurzer Abstract vorangestellt, der die wichtigsten Ergebnisse zusammenfasst.
Bereits im ersten Kapitel wird exemplarisch deutlich, wie Ruisdaels Bilder das Spannungsverhältnis zwischen "wilder" Natur und menschlicher Kultivierung nicht als Gegensatz, sondern als wechselseitige Durchdringung inszenieren (41). Im Zentrum stehen seine Darstellungen verschiedener Bodentypen und die darauf errichteten kleinen Bauernhöfe, die als Teil einer dynamischen Umwelt erscheinen. Vor dem Hintergrund von Veränderungen in Landnutzung und Eigentumsverhältnissen deutet sie Ruisdaels gleichzeitige Wertschätzung für das Ungezähmte und Kultivierte als Ausdruck eines ökologischen Denkens, das die Verflechtung von Natur und Kultur ernst nimmt (68).
Auch im zweiten Kapitel, das sich Ruisdaels Getreidefeldern widmet, steht nicht die reine Naturidylle im Fokus, sondern das Verhältnis von Arbeit, Technik und Landschaft (73). Die Getreidelandschaft wird dabei nicht nur als Ort ökonomischer Bedeutung verstanden - die Niederlande waren im 17. Jahrhundert Zentrum des Getreidehandels, nicht des Getreideanbaus (101) - sondern auch als Metapher für die "verdeckte Arbeit" (78), die Kultivierung voraussetzt. In Ruisdaels Radierungen, deren Bedeutungen laut Levesque für sein Gesamtwerk in der kunsthistorischen Forschung bisher durchgängig unterschätzt wurden (88) [3], erkennt sie eine bewusste Auseinandersetzung mit technē, verstanden als "maker's knowledge": eine Form praktischen Wissens, in der künstlerische Technik und Naturverständnis untrennbar miteinander verwoben sind (94).
Im dritten Kapitel widmet sich Levesque Ruisdaels Ruinenbildern, die ab den frühen 1650er Jahren verstärkt in seinem Werk auftreten. Im Gegensatz zu früheren ikonographischen Deutungen - angefangen bei John Constable (1776-1837), der Ruisdaels Jüdischen Friedhofs als gescheiterten allegorischen Versuch kritisierte, bis hin zu Seymour Slive, der in den Gemälden klassische Vanitas-Motive wie Tod, Verfall und die Sinnlosigkeit menschlichen Strebens erkannte [4] - interpretiert Levesque die Ruinen nicht primär als moralisch-allegorische Aussagen. Vielmehr liest sie sie als Ausdruck kontinuierlicher natürlicher Prozesse wie Erosion, Verfall und Regeneration. Zentral ist dabei der von Johan Baptista van Helmonts (1580-1644) inspirierte Begriff der "biologischen Zeit", durch den die Ruinen nicht nur als Symbol des Endes erscheinen, sondern als Teil eines ökologischen Kreislaufs, in dem "unsichtbare Kräfte wie Wind, Wasser, Wetter und Verfall den Lauf der Zeit verraten". (126)
Im vierten Kapitel steht Ruisdaels Faszination für das Element Wasser in all seinen Erscheinungsformen im Mittelpunkt. Levesque analysiert die präzise Beobachtung verschiedener Wasserbewegungen in seinen Werken, darunter ruhige Gewässer, maritime Motive und tosende Wasserfälle. Besonders in seinen Darstellungen technischer Bauwerke wie Mühlen und Dämme wird dabei deutlich, wie sehr Ruisdael am Zusammenspiel von menschlicher Kontrolle und natürlicher Kraft interessiert ist. Levesque verweist hier auf zeitgenössische Auseinandersetzungen mit hydraulischen Problemen - etwa bei Bierbrauern in Haarlem oder Wissenschaftlern wie Isaac Beekman (1588-1637) und René Descartes (1596-1650) -, ohne jedoch konkrete wissenschaftlichen Quellen zu benennen (148).
Das fünfte Kapitel schließlich behandelt die Wald- und Sumpflandschaften, die Levesque als Ruisdaels "beständigstes Sujet" bezeichnet (184). Sie zeigen eine besonders dichte Verflechtung von natürlichen Lebenszyklen und künstlerischer Gestaltung. In der minutiösen Wiedergabe von Borke, Blattwerk und Vegetationszonen sowie der Spiegelung der Bäume im Wasser erkennt Levesque nicht nur ein botanisches Interesse, sondern eine Art "probing gaze" (195) [5], also eine wissenssuchende Beobachtung, wie sie auch in der frühen Naturforschung beschrieben wird. Gerade in seinen Radierungen sieht sie einen expressiven Ausdruck der "lebendigen Kraft der Natur" (194), aber auch einen reflexiven Blick auf das eigene Schaffen: Die Natur wird nicht einfach dargestellt, sondern im Akt des Darstellens zum Gegenüber gemacht - ein Spiel aus Beobachtung und Konstruktion (201). Ruisdaels Kunst begreift Levesque damit nicht als bloß abbildend, sondern als vermittelnd: zwischen Bild und Welt, Mensch und Umwelt, Natur und Technik (221).
Catherine Levesque gelingt es insgesamt, die Landschaften Jacob van Ruisdaels aus einer Perspektive zu betrachten, die über ikonographische Deutungsmuster hinausgeht und den Blick auf ein historisches Umweltwissen lenkt, das in der Kunstgeschichte bislang noch zu wenig beachtet wurde. [6] Insofern ist es nur konsequent, dass sie dabei auf Ruisdaels wohl bekanntestes und ikonologisch am weitesten ausgedeutetes Werk, die Mühle von Wijk bei Duurstede, verzichtet. Levesque interessiert sich für Strukturen statt für Symbole, für ökologische Relationen statt für Einzelmotive.
Bei der Abgrenzung zu Ruisdaels Zeitgenossen bleibt Levesque allerdings stellenweise vage: Zwar wird konstatiert, dass andere Maler die Effekte von Wind und Erosion nicht mit derselben Spezifizität dargestellt hätten (43), eine vergleichende Vertiefung dieser Beobachtung bleibt jedoch häufig aus. Auch die zentrale und direkt zu Anfang des Buches genannte These, Ruisdael zeige "mehr als jeder andere niederländische Maler seiner Zeit eine komplexe Reaktion auf die Umwelt" (20) wirkt in ihrer Allgemeinheit angreifbar.
Besonders überzeugend ist hingegen Levesques Versuch, ökologische Lesarten nicht als zeitgeistige Projektionen, sondern als historisch plausible Sichtweisen zu etablieren. [7] Gerade weil Levesque das Ökologische nicht als moralische Kategorie, sondern als epistemologische Haltung versteht, zeigt ihre Studie, wie lohnend eine interdisziplinär geschärfte Kunstgeschichte sein kann - und wo sie zugleich noch an Tiefenschärfe gewinnen könnte.
Anmerkungen:
[1] Bei den Direktzitaten handelt es sich um eigene Übersetzungen (FB).
[2] Levesque verweist hier auf den deutschen Zoologen Ernst Haeckel, der den Begriff der Ökologie erstmals um 1866 verwendet, um die Ökonomie lebender Formen zu beschreiben. Allerdings hätten umwelthistorische Forschungsarbeiten - etwa von Petra van Dam, Verena Winiwarter, Peter Hoppenbrouwers und Dagomar Degroot - aufgezeigt, dass bereits in der Frühen Neuzeit ökologisch relevante Denk- und Handlungsmuster existierten, lange bevor der Begriff selbst entstand (20).
[3] Eine Ausnahme bilde hier George Keyes, der die Rolle von Ruisdaels Radierungen für seine Formulierung eines tieferen und lebendigeren Naturverständnisses untersucht hat. George Keyes: Les eaux-fortes de Ruisdael, in: Nouvelles de l'Estampe 36 (1977), 7-20.
[4] Seymour Slive: Jacob Ruisdael. A Complete Catalogue of His Paintings, Drawings, and Etchings, New Haven 2001.
[5] Mit dem Begriff bezieht sich Levesque auf James Bono: The Word of God and the Languages of Man, Madison 1995, 109.
[6] Vgl. Ökologien frühneuzeitlicher Kunst: Neue Perspektiven und alte Fragen, Maurice Saß und Luan Tran im Gespräch mit Gregor Wedekind, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 87 (2024) 2, 153-165.
[7] Vgl. Anm. 2.
Franca Buss