Rezension über:

Katja Schröck: Der Veitsdom in Prag und seine Vollendung. Architektur, Institution, Gesellschaft, Regensburg: Schnell & Steiner 2024, 448 S., 78 Farb-, 65 s/w-Abb., ISBN 978-3-7954-3917-0, EUR 79,00
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Christofer Herrmann
Johannes Gutenberg-Universität, Mainz
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Christofer Herrmann: Rezension von: Katja Schröck: Der Veitsdom in Prag und seine Vollendung. Architektur, Institution, Gesellschaft, Regensburg: Schnell & Steiner 2024, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 7/8 [15.07.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/07/39911.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Katja Schröck: Der Veitsdom in Prag und seine Vollendung

Textgröße: A A A

Die in Mitteleuropa im späten 18. Jahrhundert einsetzende Wiederentdeckung, Neuinterpretation und enorme Wertschätzung der gotischen Architektur führte im Verlauf des 19. Jahrhunderts zur Entstehung der aus dem mittelalterlichen Baustil inspirierten Neugotik. Die eindrucksvollsten Folgen dieser Entwicklung waren die verschiedenen Vollendungsprojekte gotischer Sakralbauten, insbesondere von Kathedralen, die am Beginn der frühen Neuzeit unfertig geblieben waren. Das berühmteste und einflussreichste Beispiel einer spätvollendeten Kathedrale war der Kölner Dom. Kaum weniger bedeutend ist die erst 1929 zum Abschluss gekommene Fertigstellung des Prager Veitsdoms.

Katja Schröck hat ihre an der TU Dresden abgeschlossene Dissertation der Vollendung dieses Sakralbaus gewidmet und ihre Arbeit in ungekürzter Fassung im vorliegenden stattlichen Band publiziert. Die zahlreichen Abbildungen, sowohl historische Zeichnungen, Pläne und Fotos, als auch neue Aufnahmen erlauben es den Lesern, die Beschreibung der Bauzustände und Arbeitsabläufe gut nachzuvollziehen. Die aktuellen Aufnahmen stammen überwiegend von der Autorin, erfüllen jedoch nicht immer die qualitativen Ansprüche, die man an eine derartige Publikation stellen darf.

Positiv hervorzuheben ist die gründliche und umfassende Quellenarbeit, die der Publikation zugrunde liegt. Die Autorin hat in zahlreichen Prager Archiven aber auch in Wien die Schrift- und Bildquellen zu den Vollendungsarbeiten, ihrer Vorgeschichte sowie den zentralen Persönlichkeiten, die daran beteiligt waren, gesichtet und ausgewertet. Insbesondere die Sitzungsprotokolle des Prager Dombauvereins standen dabei im Mittelpunkt. Die Autorin ergänzte diese Quellenarbeit durch Bauforschung vor Ort, um die aus dem Aktenstudium gewonnenen Erkenntnisse an der vorhandenen Bausubstanz nachzuprüfen. Ein solches Vorgehen ist zeitaufwendig, methodisch aber notwendig und vorbildlich.

Der Schwerpunkt der Untersuchung konzentriert sich auf die Fragen der Organisation, der praktischen Durchführung und der Deutung des Vollendungsprojekts am Veitsdom. Zunächst wirft die Autorin in Kapitel 2 aber einen Blick auf die Vorgeschichte sowohl auf den mittelalterlichen Entstehungsprozess der Kathedrale als auch auf die verschiedenen Fertigstellungsinitiativen vor dem 19. Jahrhundert. Der letztgenannte Punkt ist für das Verständnis der Vollendungsidee von großer Bedeutung, denn er zeigt, dass der Torsocharakter des nach den Hussitenkriegen im frühen 15. Jahrhundert unfertig gebliebenen Doms in allen nachfolgenden Epochen immer wieder als Manko begriffen wurde. Der Gedanke, die Kirche zu vollenden, war demnach keine Erfindung des 19. Jahrhunderts, allerdings konnten erst in dieser Zeit die Kräfte zur Durchführung des ambitionierten Vorhabens aufgebracht werden. Ein zentraler Grund dafür, dass die frühen Bemühungen scheiterten, lag darin, dass es sich meist nur um Einzelinitiativen habsburgischer Kaiser (zugleich böhmische Könige) handelte, die nicht auf einer breiteren gesellschaftlichen Basis standen. Erst durch das Wirken des Dombauvereins, der zu seinen Hochzeiten in den 1870er Jahren bis zu 5000 Mitglieder hatte, konnte, in Verbindung mit den verbesserten ökonomischen und technischen Verhältnissen dieser Epoche, ein derart aufwändiges und langwieriges Projekt zum Erfolg geführt werden.

Einen ersten Fokus richtet die Autorin auf den Prager Dombauverein als die zentrale Institution zur Planung, Finanzierung, Durchführung und Popularisierung der Domvollendung (Kapitel 3). Ein zweiter Schwerpunkt der Arbeit liegt auf der Darstellung der führenden Persönlichkeiten des Vollendungsprojekts. Hierzu zählen vor allem der Initiator des Prager Dombauvereins, der Theologe und Domherr Wenzel Michael Pessina von Czechorod (1782-1859), sowie die drei Dombaumeister Joseph Kranner (1801-1871), Josef Mocker (1835-1899) und Kamil Hilbert (1869-1933), die jeweils ausführlich in ihrer Biografie und Tätigkeit vorgestellt werden (Kapitel 4). Die Autorin zeigt dabei an der sich verändernden Vorgehensweise der verschiedenen Dombaumeister auch auf, wie sich die allgemeine Entwicklung der Denkmalpflege auf die Vollendungskonzeptionen auswirkte. So orientierten sich die beiden ersten Dombaumeister am Prinzip der Purifizierung und Stilreinheit, was zur Folge hatte, dass fast alle nachmittelalterlichen Ausstattungsstücke des Doms entfernt oder beseitigt und durch neugotische Elemente ersetzt wurden. Unter Dombaumeister Hilbert wurde diese strenge Haltung aufgeweicht, er "verfolgte nicht mehr doktrinär die Neugotik, sondern ließ auch zeitgenössische Werke und Arbeiten zu." (244) Offenbar angeregt durch die Kontakte mit Max Dvořák schwenkte Hilbert auf den Kurs einer eher konservierenden Denkmalpflege ein und näherte das Vollendungsprojekt somit moderneren Prinzipien des Umgangs mit Denkmälern an.

Der dritte Schwerpunkt der Arbeit liegt auf der Erörterung der Deutungsmuster, die den Diskurs des Vollendungsprojekts dominierten. Im Vordergrund steht dabei die Frage, ob die Fertigstellung des Doms von Anfang an als Initiative im Dienst der tschechischen Nationalidee interpretiert werden kann oder ob dies erst eine nachträgliche Deutung gewesen ist. Die Autorin zeichnet zunächst die Entwicklung der Idee einer böhmischen Nation sowie der tschechischen Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts nach, die einer deutschsprachigen Leserschaft weniger geläufig sein dürften, und erläutert auf dieser Basis die Hintergründe der Diskussion. Sie kommt schließlich zur Schlussfolgerung, dass die Deutung des vollendeten Doms als tschechisches Nationaldenkmal ein nachträgliches Konstrukt gewesen ist. Für die Initiatoren des Vollendungsprojekts stand die durch Karl IV. ("Vater des Vaterlands") geformte böhmische Nation im Fokus, was als Identifikationsmodell für Tschechen und Deutschböhmen gleichermaßen funktionierte. Die Autorin verweist darauf, dass der Dombauverein keine Volksbewegung war, sondern von der Geistlichkeit, dem Adel und Architekten/Künstlern dominiert wurde. Erst im 20. Jahrhundert wuchs der fertiggestellte Dom in die Rolle eines Nationaldenkmals im modernen Sinn hinein.

Insgesamt gesehen liegt hier eine gelungene, quellenfundierte und lesenswerte Arbeit vor, die sich auch bemüht, keinen national einseitigen Standpunkt zu vertreten. Wünschenswert wäre vielleicht noch gewesen, die Vollendung des Prager Veitsdoms vergleichend in die Geschichte der zahlreichen parallelen Projekte dieser Art einzuordnen. Der Bezug zwischen Prag und Köln wird zwar an mehreren Stellen angesprochen, jedoch erfolgt keine systematische Bewertung des Prager Beispiels im weiteren europäischen Kontext. Diese kritische Bemerkung soll jedoch den wissenschaftlichen Wert der vorgelegten gründlichen Einzelfallstudie nicht mindern.

Christofer Herrmann