David L d'Avray: The Power of Protocol. Diplomatics and the Dynamics of Papal Government, c. 400 - c.1600, Cambridge: Cambridge University Press 2023, XI + 266 S., ISBN 978-1-009-36111-8, GBP 85,00
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David d'Avray hat ein schmales und umso mutigeres Buch geschrieben, bei dessen Beurteilung im Auge behalten werden muss, dass es sich nicht um eine knappe Papsturkundenlehre handelt - auch wenn es abschnittsweise so scheint. Zwei weitere Klarstellungen trifft der Autor zu Beginn (1): Das 'protocol' des Titels orientiert sich an der Bedeutung eines "(usually standardised) set of rules governing the exchange of data", worunter man Formular, Geschäftsgang und Verfahrensregeln fassen kann. Die amerikanische Form "Diplomatics" anstelle des britischen "Diplomatic" soll die Verwechslung mit "Diplomacy" erschweren - wer in einer öffentlichen Veranstaltung des österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung die Beschwerde eines Antragstellers gehört hat, dass ein der Diplomatik gewidmetes Projekt abgelehnt worden war, weil ein Gutachter darin keinen Nutzen für die Diplomatiegeschichte erkannt hatte, kann gegen diese Vorsicht nichts einwenden.
Die der Untersuchung zugrunde liegende Frage ist, wie das Papsttum respektive die Kurie es bewältigte, Wirksamkeit in der Christenheit trotz unzureichender Mittel - an Geld und Personal, aber auch am Überblick über die eigene Schriftproduktion - zu erlangen und zu erhalten, was d'Avray als "Hageneder's question" (3) etikettiert; vor allem der letztgenannte Aspekt hat den 2020 verstorbenen Herausgeber der Register Innocenz' III. intensiv beschäftigt. Dass der Großteil der expedierten Papsturkunden seine Existenz dem Wunsch der Petenten und nicht päpstlicher Initiative verdankt, ist heute communis opinio, die auch d'Avray teilt ("responsive government", "demand-driven", passim). Dennoch steht hier die Antwort der Kurie im Mittelpunkt und nicht der Grund der Nachfrage. Da sich beides tatsächlich nicht trennen lässt, soll Letzterer in weiteren Studien untersucht werden (xi, 195).
Den Schlüssel sieht d'Avray in " 'applied' rather than 'pure' diplomatics" (xi), das heißt in der Heranziehung "rein" formaldiplomatischer Befunde ("uncontaminated by application to substantive history", 2) zur Beantwortung allgemeinhistorischer Fragen, wofür man auf Michael Clanchy's "making" und "using" verweisen könnte, oder auch wieder auf Othmar Hageneder, der einzelne Formularteile in und aus ihrer Nutzanwendung erklärte [1]. Für die pointierte Kontrastierung beider Zugänge, aber auch für maßgebende Beiträge zur angewandten Diplomatik steht Heinrich Fichtenau (27f.), der wie Hageneder am Institut für Österreichische Geschichtsforschung in Wien tätig war [2]. Die Einschätzung des Instituts als "citadel of Diplomatics as a discipline" (16) wird man aufgrund der Personalpolitik an der Universität Wien mittlerweile als historischen statt als aktuellen Befund werten müssen.
Trotz seiner Positionierung weiß d'Avray die "reine" Diplomatik als unentbehrlich zu schätzen, stellt sie in seinem Forschungsüberblick in fairer Weise vor, stützt sich explizit auf sie und zitiert Titel in verschiedenen Sprachen richtig, was in anglophonen Publikationen nicht immer der Fall zu sein pflegt. In die Forschungsgeschichte eingestreute "angewandte" Beobachtungen, etwa zu Urkundentypen, zu Fälschungen, zur Arenga, zur Exemtion oder zur Ungeschulten unterlaufenden Verwechslung narrativer und dispositiver Teile, setzen einige Vertrautheit der Leser*innen mit der Materie voraus.
Der Hauptteil des Buchs folgt dann der Geschichte der Papsturkunde und der Wege ihrer Ausstellung - "Kanzleigeschichte" wäre hier zu eng, da nicht immer eine Kanzlei involviert sein musste, sondern es daneben auch andere Wege der Ausstellung gab - in drei großen Abschnitten: von der Spätantike bis in die Mitte des 12. Jahrhunderts, von dort bis zum großen Schisma und danach laut Überschrift bis zur Gegenreformation, faktisch aber mit weiteren Ausblicken. Die älteste Phase ist geprägt von der Bindung an Rom, römische Schreiber und ihre Schrift. Um die Herausbildung Roms als Auskunfts- und Entscheidungsinstanz wie auch Anbieter rechtlichen Rückhalts zu erklären, kommt man an den Apostelfürsten nicht vorbei, wobei d'Avray den Arengen der ausgehenden Schreiben für die Verbreitung der petrinischen Ideologie große Bedeutung zumisst. Nicht ganz konsistent erscheint es dann, dass er die Kuriale als für die Zeitgenossen ohnehin kaum lesbare Schrift erachtet, die geholfen habe, das peinlich schlechte Latein der päpstlichen Schreiber zu kaschieren und die optisch eindrucksvollen, großformatigen Privilegien auf Papyrus mit "the advantage of mystery" (70) zu versehen. Wenn sie später in Prozessen herangezogen wurden, musste man doch einen Zugang zum Inhalt gefunden haben; und ob "lousy" (194) eine adäquate Beschreibung des Sprachstands ist, möge im Rahmen der mittellateinischen Philologie entschieden werden. Plausibel gewählt für das Wechselspiel von Bedarf in partibus und päpstlicher Reaktion ist das Beispiel von Schutz und Exemtion, deren Inhalte lange vage blieben und nach sich änderndem Gegebenheiten interpretiert werden konnten, ohne dass die Kurie ein klares Konzept dafür gehabt hätte.
Die durch die Reform und die Internationalisierung des Papsttums herbeigeführte Steigerung der Inanspruchnahme der Kurie forderte die Rationalisierung der Verfahren, die Etablierung von Regeln und die Vermeidung der Kosten, die ein großer personeller Apparat verursacht hätte, wie: Auslagerung von Verfahrensteilen durch Delegation, die mit einfachen Urkunden vorgenommen werden konnte; Formularbehelfe ("The function of a formulary is to economise on thinking time", 113), die auch außerhalb der Kurie verfügbar waren und den Parteien und ihren Prokuratoren einiges an Vorarbeiten überließen; Transport durch die Parteien; Zuordnungen von Rechtsinhalten zu den etablierten Urkundentypen; Routineausfertigungen am Papst, Spezielleres mittels Kammer und Sekretären an der Kanzlei vorbei; Einspruchsmöglichkeit in der Audientia, die Streitparteien den Weg zum Kompromiss nahelegten; Hierarchisierung von Bewilligungen im Konfliktfall; und Taxen statt Sold. D'Avray ist auch stets auf der Suche nach möglichen "short cuts" (117f.) im Geschäftsgang, die das Bewältigen des Aufwands plausibler machen können, aber noch nähere Betrachtung verdienen. Konkrete Beispiele sorgen einerseits für Bodenhaftung, machen die Darstellung aber nicht übersichtlicher. Eine Auswahl von 23 Texten, auf die Bezug genommen wird, von Innozenz I. und dann ab Coelestin III. ist im Anhang ediert (196-230) - aber nicht übersetzt, wie mehrfach angekündigt -, und unter Berufung auf Battelli, Katterbach und Frenz/Pagano sind nur sechs Abbildungen beigegeben; für Beschreibungen dann auf unpubliziertes Material zu verweisen, ist nicht eben hilfreich. Angesprochen werden selbstverständlich auch die Register, deren imposante Wirkung durch den Vergleich mit der englischen Verwaltung oder der mediterraner Kommunen gedämpft wird, und die Arbeit der Pönitentiarie.
Großen Respekt verdient schließlich die Expedition in den Dschungel des neuzeitlichen Quellenmaterials, dem seitens der Forschung eine Wüste mit wenigen Oasen gegenübersteht. Hier können nur, unter Heranziehung zeitgenössischer Instruktionen und Traktate über die Praxis der Kurie, die Behörden und die zugehörigen Archivfonds vorgestellt werden. [3] Nur scheinbar vom Thema weg führt der Bestand der Positiones der Congregazione del Concilio, denn hier fielen Entscheidungen, die in den Geschäftsgang einflossen. Dortige Stellungnahmen zur Frage, ob die Taufe durch Calvinisten gültig wäre, sind im Anhang (216-228, dazu 229f.) ediert, daneben die Einsetzung eines Bischofs in Japan und eine Regelung, wie man es in der ausgelaufenen Genueser Flotte mit Fasten, Messfeier und Absolutionen halten sollte, beide von Sixtus V. 1587/88. Die Frühneuzeitforschung fände hier reichlich Beschäftigung.
Am Schluss steht der Versuch, die Frage nach schriftgestützter Regierungsfähigkeit ohne ausreichende Bürokratie auf Basis der diplomatischen Befunde zusammenfassend zu beantworten. Bekanntes wird von d'Avray in frischer Weise in den Blick genommen, manche wertvolle Beobachtung sollte halten, andere, gerade über die verkürzten Verfahren, werden dazu noch bessere Untermauerung brauchen. Der Band lädt zur Diskussion ein.
Anmerkungen:
[1] Etwa Othmar Hageneder: Probleme des päpstlichen Kirchenregiments im hohen Mittelalter (Ex certa scientia, non obstante, Registerführung), in: Lectiones eruditorum extraneorum in facultate philosophica universitatis Carolinae Pragensis factae 4, Praha 1995, 49-77.
[2] Siehe auch Heinrich Fichtenau: Diplomatiker und Urkundenforscher, in: MIÖG 100 (1992) 9-49; David d'Avray: The Fichtenau Paradigm and Hageneder's Question, in: Andrea Sommerlechner / Herwig Weigl (Hgg.): Innocenz III., Honorius III. und ihre Briefe. Die Edition der päpstlichen Kanzleiregister im Kontext der Geschichtsforschung (VIÖG; 79), Wien 2023, 27-37.
[3] Zur Rota wäre Enrico Flaiani: Storia dell'Archivio della Rota romana (Collectanea Archivi Vaticani; 100), Città del Vaticano 2016, zu ergänzen.
Herwig Weigl