Rezension über:

Pavel Plachá: Zerrissene Leben. Tschechoslowakische Frauen im Konzentrationslager Ravensbrück 1939-1945. Aus dem Tschechischen übersetzt von Marika Jakeš, Hamburg: VSA-Verlag 2023, 454 S., ISBN 978-3-96488-169-4, EUR 34,80
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Rezension von:
Linde Apel
Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Linde Apel: Rezension von: Pavel Plachá: Zerrissene Leben. Tschechoslowakische Frauen im Konzentrationslager Ravensbrück 1939-1945. Aus dem Tschechischen übersetzt von Marika Jakeš, Hamburg: VSA-Verlag 2023, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 6 [15.06.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/06/40332.html


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Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Pavel Plachá: Zerrissene Leben

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Von den etwa 123.000 Frauen, die 1939-1945 im KZ Ravensbrück inhaftiert waren, stammten circa 5.000 aus dem Gebiet der in der Zeit von 1938 bis 1945 stark fragmentierten Tschechoslowakei. Diese relativ kleine Gruppe von Häftlingen war hinsichtlich ihrer räumlichen und sozialen Herkunft, der Haftgründe und der ethnischen Zusammensetzung außerordentlich divers. Ausgehend von der tschechoslowakischen Geschichtsschreibung der Nachkriegszeit, in der fast ausschließlich an die Verfolgungsgeschichte jener Frauen erinnert wurde, die aus bestimmten, im Nachhinein als politisch genehm eingeordneten Gründen nach Ravensbrück eingeliefert worden waren, verfolgt Pavla Plachá den Anspruch, ein umfassendes Bild der Zusammensetzung dieser Haftgruppe zu zeichnen. Dies kann sie, soviel sei vorweggenommen, auf der Grundlage von extensiven Archivrecherchen, einer umfassenden Sichtung der Sekundärliteratur und auf der Basis von Selbstzeugnissen Überlebender bis hin zu selbstgeführten Interviews eindrucksvoll einlösen.

Die Verfasserin hat sich in ihrer 2019 abgeschlossenen Dissertation, die nun in deutscher Übersetzung vorliegt, für einen unkonventionellen Aufbau entschieden und strukturiert das Buch gewissermaßen zeitlich rückwärts. Sie beginnt nicht etwa mit der Darstellung der Biografien und Haftgründe der in Ravensbrück inhaftierten Frauen, geht dann zur Beschreibung von geschlechtsspezifischen, die Haftsituation prägenden Situationen über und widmet sich anschließend dem Umgang mit dieser Geschichte in der Nachkriegszeit, sondern strukturiert das Buch genau andersherum. Ein kurzer, aber informativer erster Teil ist der Geschichtsschreibung über Ravensbrück in der Tschechoslowakei der Nachkriegszeit bis 1989 gewidmet. Der ebenfalls relativ kurz gehaltene zweite Teil umfasst unter der Überschrift "Als Frau in Ravensbrück" überwiegend auf der Basis von Selbstzeugnissen Erörterungen, welchen Bedingungen Frauen im KZ ausgeliefert waren und wie sie dort zu bestehen versuchten. Erst der dritte und längste Teil widmet sich den Biografien der inhaftierten Frauen. Dieses Kapitel gliedert die Autorin entlang der, wie wir wissen, teils durchaus willkürlich vergebenen Haftkategorien des KZ-Systems. Diese Struktur ist nicht ganz einfach durchzuhalten. Darauf verweisen die zahllosen biografischen Skizzen von ehemaligen Häftlingen, die sich auf unterschiedliche Weise für ein Erinnern an das KZ Ravensbrück einsetzten, die die Verfasserin notwendigerweise bereits im ersten Teil des Buches platziert. Denn ohne Kenntnis der Herkunft und (vor allem) der politischen Position der Häftlinge lässt sich die besondere Form des staatlich geförderten Gedenkens an das KZ Ravensbrück, bzw. an ausgewählte Schicksale, nicht einordnen.

Das Buch enthält eine Fülle von biografischen Informationen und ist außerordentlich lesenswert. Eine Besonderheit sind die vielen und in bemerkenswert hoher Druckqualität veröffentlichten Abbildungen von Fotos, historischen Dokumenten und künstlerischen Werken, die in oder nach der Zeit der Verfolgung entstanden. Hervorzuheben sind die Bilder von Nina Jirsíková, die etliche Seiten umfassen. Die Biografie der Künstlerin suchte ich jedoch vergebens, vielleicht ist das ein Hinweis darauf, dass die Autorin davon ausgeht, dass alle diese Künstlerin kennen. Das ist freilich im deutschsprachigen Kontext nicht vorauszusetzen, wie der spärliche deutschsprachige Wikipedia-Eintrag belegt. [1] Allerdings fehlen Informationen über den Entstehungskontext der sehenswerten Text-Bild-Collagen Jirsíkovás, und auch eine Interpretation durch Plachá findet nicht statt. Die Bilder werden leider nicht, wie heute mittlerweile üblich, als historische Quellen betrachtet, sondern rein illustrativ eingesetzt. [2] Ähnlich ist der Umgang mit ganz anderen Bildern: den von der SS im KZ Ravensbrück angefertigten Propagandafotos. Dies ist zumindest ein fragwürdiges Verfahren, das auch deshalb wenig nachvollziehbar ist, weil die Fotos, wenn sie nicht kontextualisiert werden, nur wenig aussagen und bei flüchtiger Betrachtung sogar einen falschen Eindruck des Lagers vermitteln. Menschenleere, ordentliche Barackenreihen (7), ordentlich gestreifte Häftlingskleider und Schürzen tragende Frauen bei der Zwangsarbeit (10) oder ein aufgeräumtes, gut ausgestattet und damit quasi normal wirkendes "Behandlungszimmer im Revier des Frauen-Konzentrationslagers Ravensbrück, 1940-1941" so der Untertitel eines Fotos (19), sind unfreiwillig irreführend. [3]

Die Autorin konnte sogar noch einige Interviews mit Frauen führen, die ihre Haft im KZ Ravensbrück überlebten. Allerdings bleibt unklar, wann diese Interviews geführt wurden. Zudem ist zu hoffen, dass diese mündlichen Quellen archiviert werden, damit sie auch anderen für ihre Forschungen zur Verfügung stehen. Ob das der Fall ist, ist dem Buch leider nicht zu entnehmen.

Das Buch ist für alle relevant, die sich für biografische Studien im Kontext des KZ Ravensbrück, für nationale Häftlingsgruppen oder für den Umgang mit dem Erinnern in einem spezifischen historischen Kontext interessieren. Obwohl die Publikation sich vor allem mit der Situation im sogenannten Stammlager beschäftigt, ohne vertieft auf die Verhältnisse in den Außenlagern einzugehen, gelingt es der Autorin in beeindruckender Weise, auf die multiethnisch, politisch, sozial und religiös divers zusammengesetzte Untersuchungsgruppe zu verweisen, auf die daraus folgenden durchaus voneinander abweichenden Haft- und Überlebensbedingungen und damit auch auf die Möglichkeit, nach dem Überleben für das Erlebte Gehör zu finden.

Der Verfasserin gelang es, für die Übersetzung und Veröffentlichung von drei Stiftungen gefördert zu werden. Hervorheben möchte ich die relativ kleine Hamburger Kurt und Herma Römer Stiftung. Da ich das Glück hatte, Herma Römer, die mit etlichen ehemaligen tschechischen Häftlingen befreundet war, persönlich gekannt zu haben, weiß ich, wie sehr sie sich über diese Publikation und ihre Übersetzung ins Deutsche gefreut hätte.


Anmerkungen:

[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Nina_Jirsíková (25.06.2024).

[2] Vgl. dazu: Sybille Steinbacher / Michael Wildt (Hgg.): Fotos im Nationalsozialismus. Neue Forschungen zu einer besonderen Quelle, Göttingen 2022.

[3] Vgl. dazu: Ute Wrocklage: Das SS-Fotoalbum des Frauen-Konzentrationslagers Ravensbrück, in: Im Gefolge der SS. Aufseherinnen des Frauen-KZ Ravensbrück. Begleitband zur Ausstellung, hg. von Simone Erpel, Berlin 2007, 233-251.

Linde Apel