Rezension über:

Jochen Sander (Hg.): Rembrandts Amsterdam : Goldene Zeiten? Eine Ausstellung des Städelmuseums, Frankfurt am Main in Zusammenarbeit mit dem Amsterdam Museum, München: Hirmer 2024, 288 S., ISBN 978-3-7774-4408-6, EUR 49,90
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Rezension von:
Erik Eising
Gemäldegalerie, Staatliche Museen zu Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Anna K. Grasskamp
Empfohlene Zitierweise:
Erik Eising: Rezension von: Jochen Sander (Hg.): Rembrandts Amsterdam : Goldene Zeiten? Eine Ausstellung des Städelmuseums, Frankfurt am Main in Zusammenarbeit mit dem Amsterdam Museum, München: Hirmer 2024, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 6 [15.06.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/06/40318.html


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Jochen Sander (Hg.): Rembrandts Amsterdam : Goldene Zeiten?

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Nach Nennt mich Rembrandt! Durchbruch in Amsterdam (2021/22) war Rembrandts Amsterdam. Goldene Zeiten? 2024/25 die zweite Sonderausstellung des Städel Museums innerhalb kurzer Zeit, in der der niederländische Künstler nominell in den Mittelpunkt gestellt wurde. Die erste Schau thematisierte die Selbstvermarktung des Malers und die Akquise von Auftraggeber:innen in Amsterdam, die zweite wollte anhand von Bildquellen die verschiedenen Bevölkerungsschichten und -gruppen der Stadt näher beleuchten. Anlass für die jüngste Ausstellung war die derzeitige grundlegende Renovierung und Erweiterung des Amsterdam Museum. Das Stadtmuseum beherbergt eine einzigartige Sammlung von Gruppenporträts aus dem 16. und 17. Jahrhundert - Darstellungen von Offizieren der Schützengilden, Regenten und Regentessen städtischer Einrichtungen und Mitgliedern von Berufsverbänden -, die es auch während der Schließungszeit der Öffentlichkeit zugänglich machen möchte. Die Frankfurter Ausstellung bot eine Chance, die Gesellschaft Amsterdams aus einer kritischen Außenperspektive zu betrachten: Im 17. Jahrhundert war die damalige Welthandelsmetropole Epizentrum der wirtschaftlichen und kulturellen Blütezeit der niederländischen Republik, die unter dem Begriff Gouden Eeuw (Goldenes Zeitalter) bekannt wurde. Dieser ist jedoch, vor allem im Hinblick auf koloniale Bezüge, seit einigen Jahren sehr umstritten. Die Chance zur Infragestellung des Terminus wurde nur teilweise genutzt.

2019 entbrannte in den Niederlanden eine Debatte über das "Goldene Zeitalter", in der das Amsterdam Museum eine zentrale Rolle spielte. Das Haus entschied sich schon bald, den Begriff nicht mehr zu verwenden, da es anerkannte, dass die vermeintliche Blütezeit im 17. Jahrhundert nur durch Ausbeutung, Versklavung und Kolonialherrschaft über große Menschengruppen möglich war. Daraus ergibt sich auch das Fragezeichen im Ausstellungstitel: Kann man mit diesem Bewusstsein überhaupt noch von einem Goldenen Zeitalter sprechen und für wen waren es damals "goldene Zeiten" - und für wen nicht?

Die Ausstellungsmacher:innen führen als Argument für die Verbindung des Themenkomplexes des sogenannten "Goldenen Zeitalters" mit dem Phänomen der Gruppenporträts an, dass auf diesen Bildern von Angehörigen der bürgerlichen Elite nicht selten auch Personen aus sozioökonomisch schwächeren Schichten in Nebenrollen dargestellt sind - Menschen, die nicht über die finanziellen Mittel verfügten, sich porträtieren zu lassen, und die in der Regel auch nicht als "bildniswürdig" galten. In vielen dieser Fälle, zum Beispiel bei Regentenbildnissen aus Waisenhäusern, handelt es sich bei den dargestellten Nebenfiguren jedoch lediglich um anonyme Bildfiguren, die typologisch dargestellt sind (etwa Waisenkinder). In seltenen Fällen ist es Forschenden aber tatsächlich gelungen, die Identität solcher Figuren, wie etwa Bediensteten, zu ermitteln. Ein schönes Beispiel hierfür findet sich in Bartholomeus van der Helsts Vorsteher des Hakenbüchsen-Schützenhauses (1655) aus dem Amsterdam Museum, das im Hintergrund die Schankwirtin Geertruyd Nachtglas (1607-1690) zeigt. Die Aufnahme dieses Gemäldes in die Ausstellung und den Katalog verdeutlicht eine gewisse Ambiguität, die das gesamte Projekt durchzieht: Auf der einen Seite will es die unteren Schichten im Amsterdam des 17. Jahrhunderts ins Blickfeld rücken, auf der anderen Seite will es, auf der Grundlage der Sammlung des Amsterdam Museum, eine kunsthistorische Aufarbeitung des Phänomens des bürgerlichen Gruppenporträts bieten, von weit vor bis deutlich nach Rembrandt (1606-1669). In der Ausstellung wurde Geertruyd Nachtglas' bemerkenswerte Biographie durch die Ausstellungsgestaltung hervorgehoben, indem neben einer Vergrößerung ihres Porträts an der Wand ein ihr gewidmeter Text zu lesen war. Im Ausstellungskatalog selbst hingegen ist Nachtglas' Geschichte wenig mehr als eine Randnotiz; ein halber Absatz in einem längeren Beitrag von Tom van der Molen über die Entwicklung der Bildtradition des Amsterdamer Schützenstücks im 17. Jahrhundert.

Der reich bebilderte Katalog enthält Aufsätze, aber keine Katalogeinträge. Von den fast 140 in Frankfurt ausgestellten Gemälden, Skulpturen, Grafiken und Gebrauchsgegenständen (darunter, zusätzlich zu den Leihgaben des Amsterdam Museum, auch Werke aus anderen europäischen, US-amerikanischen und kanadischen Sammlungen), werden am Ende des Katalogs 130 in einem knappen "Katalog der ausgestellten Werke" mit Literaturhinweisen aufgelistet. Die Publikation beginnt mit einer Einleitung des Ausstellungskurators Jochen Sander, gefolgt von einem weiteren von ihm verfassten, einführenden Aufsatz zur Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte Amsterdams. Der bereits genannte Kurator des Amsterdam Museum Tom van der Molen hat darüber hinaus einen für das Ausstellungsthema wesentlichen Aufsatz zur Entstehung und Bedeutung des Begriffs Gouden Eeuw verfasst, in dem die jüngsten Debatten zum Thema etwas zu kurz zu kommen scheinen. Vier Aufsätze von Norbert Middelkoop vom Amsterdam Museum, dem führenden Experten auf dem Gebiet des niederländischen Gruppenporträts, beschreiben verschiedene Aspekte und Formen dieser Bildgattung im 16. und 17. Jahrhundert vor allem aus kunsthistorischer Sicht, wobei Rembrandt nur eine untergeordnete Rolle zukommt.

Die Themen des Amsterdamer Gruppenporträts einerseits und der gesellschaftlichen Randgruppen andererseits (sowie auch des damaligen institutionellen Umgangs mit ihnen) werden in drei weiteren, gut recherchierten und verfassten Beiträgen zu verschiedenen städtischen Einrichtungen eng miteinander verknüpft: Co-Kuratorin Corinna Gannon schreibt über das Aalmoezeniershuis, Friederike Schütt über das Burgerweeshuis und Jochen Sander und Kambis Zahedi über die Zuchthäuser Rasphuis und Spinhuis. Letztlich sind es aber nicht die Gruppenporträts, die uns hier mit eindringlichen Einblicken in Lebensgeschichten konfrontieren, sondern die Einzeldarstellungen, wie etwa das anonyme Bildnis des geistig eingeschränkten "Malle Baandje" (1648-1719) oder Chalmer Salomonsz' Aktstudie des Aron Abrahamsz Polak (1670-1739), der unter anderem wegen Steuerbetrugs zu einer außerordentlich harten, vermutlich von antisemitischen Ressentiments geprägten, dreißigjährigen Haft im Rasphuis verurteilt wurde.

Den dramatischen Höhepunkt von Ausstellung und Katalog stellt die von der Rembrandt-Expertin Stephanie Dickey recherchierte und eindrucksvoll dargestellte Lebensgeschichte der Elsje Christiaens (um 1646-1664). Weil sie ihre Vermieterin getötet hatte, wurde die junge, verarmte Dänin erdrosselt. Die Details der Gerichtsverhandlung sowie die Skizzen, die Rembrandt und einige seiner Mitarbeiter von der zur Schau gestellten Leiche Christiaens' anfertigten, regen zum Nachdenken über die justizielle Behandlung mancher Bevölkerungsgruppen (wie etwa Frauen, Ausländer:innen oder Verarmten) an. Einen weiteren Höhepunkt bilden die von Astrid Reuter beschriebenen Radierungen Rembrandts, in denen Bettler und Obdachlose als Individuen und ohne moralische Wertung dargestellt sind. Es sind also die Arbeiten auf Papier, die dem Titel und der zentralen Fragestellung der Ausstellung am meisten gerecht werden.

Unbehagen löst schließlich die fast ausnahmslose Fokussierung auf Narrative und Darstellungen der weißen, christlichen Einwohner:innen Amsterdams aus. Der Begriff "Sklavenhandel" und kurze Hinweise auf den Kolonialismus als Ursprung des niederländischen Reichtums tauchen zwar einige Male im Katalog auf, aber außer bei dem bereits erwähnten Aron Abrahamsz werden weder die Präsenz Andersgläubiger noch die Rolle von Menschen außereuropäischer Herkunft in Amsterdam erwähnt oder thematisiert. Sowohl der Katalog als auch die Ausstellung verzichten bis auf wenige, schwer zu findende Ausnahmen, auf Darstellungen von People of Color. Dies ist bemerkenswert, da in den letzten Jahren Ausstellungen wie Zwart in Rembrandts tijd im Amsterdamer Rembrandthuis (2020) gezeigt haben, wie heterogen die Bevölkerung der Stadt im 17. Jahrhundert war. Gerade im Werk Rembrandts begegnet man zahlreichen Schwarzen Menschen, aber auch jüdischen, die als Nachbar:innen, Modelle und gegebenenfalls auch Auftraggeber:innen Teil seines Amsterdams waren. Ohne diese Gruppen miteinzubeziehen, kann die im Ausstellungstitel aufgeworfene Frage nicht fundiert diskutiert werden. Trotz dieser Kritik ist das Bemühen der Ausstellungsmacher:innen spürbar, die gesellschaftlichen Spannungen und Komplexitäten der Zeit sichtbar zu machen und sie reflektiert in einen kunsthistorischen Rahmen einzubetten. Hoffentlich kann die Publikation im deutschsprachigen Raum als Anstoß für weitere, ähnliche gesellschaftlich-analytische Projekte zur Malerei der Alten Meister dienen.

Erik Eising