Daniel Gerster: Schulen der Männlichkeit. Internatserziehung und bürgerliche Gesellschaft in Großbritannien und Deutschland 1870-1930 (= Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte; Bd. 64), Göttingen: Wallstein 2024, 575 S., 30 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-5722-8, EUR 46,00
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Als "voller Unbehagen, Zwang und sinnloser Eintönigkeit" (zit. n. 200) rekapitulierte Winston Churchill seine Zeit in der Public School Harrow - ein Bild, welches Daniel Gerster in seinem Buch zur Konstruktion von Männlichkeit in britischen und deutschen Internatsschulen in Teilen bestätigt, vor allem aber ausdifferenziert. Das Buch beruht auf Gersters im Jahr 2023 an der Universität Hamburg angenommenen Habilitationsschrift "Männerbildung. Internatserziehung und bürgerliche Gesellschaft in Großbritannien und Deutschland, 1870-1930". Es befasst sich vergleichend mit Internaten als "Schulen der Männlichkeit" [1] und somit mit einem Desiderat: Kontinuität und Wandel der in diesen Einrichtungen formierten Männlichkeitsbilder und -vorstellungen wurden bisher nicht historisch herausgearbeitet, trotz ihrer gesellschaftlichen Relevanz insbesondere in Großbritannien. Als wissenschaftliche Abhandlung zur Geschichte der Internatserziehung ist Gersters Buch gewinnbringend und hat das Potenzial zum Standard- bzw. Einführungswerk. Für einen Beitrag zu Geschlechtergeschichte und Geschlechtertheorie schafft es eine gute Basis, wesentliche Untersuchungen zu Männlichkeitsbildern und jüngere erziehungswissenschaftliche sowie geschlechterhistorische Forschungen wurden aber nur selektiv rezipiert. [2]
Nach einem einführenden Kapitel zu Forschungsstand, Fragestellung, Methoden und Quellen folgt eine komplexere Einführung in das Thema der Internate in der deutschen und britischen Gesellschaft. Es schließen sich drei umfangreiche chronologische Kapitel an. Die Einteilung folgt diskursiv relevanten Internatsneugründungen. Für die Zeit zwischen 1870 und 1890 rekonstruiert Gerster die Genese von Internaten als "Dienstleistungsinstrumente" (89) für bürgerliche Schichten in Großbritannien und Deutschland. Seine Ausführungen fokussieren mit der Landesschule Schulpforta und der Public School Harrow zwei traditionsreiche Einrichtungen, für die Gerster die Verbürgerlichung der dort vermittelten Männlichkeitsvorstellungen nachzeichnet. Es schließt sich eine Betrachtung der vielfach als klassisch reformpädagogisch gelesenen Phase 1890 bis 1914 an, mit Internatsschulgründungen, die die Erziehung "neuer Männer" (231) in Aussicht stellten. Die früh koedukativ organisierte Bedales School in Großbritannien und das Oberstufeninternat von Schloß Bieberstein in Preußen werden hier in Ergänzung und Kontrast zu den weiter beobachteten Harrow und Schulpforta behandelt. Das folgende chronologische Kapitel nimmt die Zeit des Ersten Weltkriegs und der Nachkriegszeit in den Blick und rückt die Neugründung Schloss Salem am Bodensee ins Zentrum. Die Entwicklungen nach 1945 werden im Abschlusskapitel diskutiert.
Insgesamt gelingt es Gerster zu zeigen, dass in Internaten geprägte Männlichkeitsvorstellungen stets umkämpft waren. Handlungsspielräume der Schüler:innen werden dabei auch thematisiert. Die genaue Gewichtung des Einflusses der verschiedenen Gruppen bleibt schwer zu beurteilen, allein die Präsenz der Leitungsfiguren in Gersters Ausführungen legt eine herausgehobene Rolle der Schulleitungen nahe. Gerster betont, dass Internate als "Dienstleistungsunternehmen für bürgerliche Familien" darauf ausgerichtet waren, "den Jungen - und Mädchen - die sie besuchten, eine bestmögliche Schulbildung zukommen zu lassen und sie in einem gewünschten männlichen - respektive weiblichen - Habitus zu erziehen" (496). Dazu beschreibt Gerster "Sozialisationsräume, -ziele, -praktiken und -effekte" (44) in der Internatserziehung.
Für Preußen und Großbritannien kommt Gerster zu dem Ergebnis, dass eine "Verbürgerlichung der Internatserziehung und der Männlichkeitsbilder" (88) erfolgte in der Phase bis 1890. Die wechselseitige Konstitution, in der das Bürgertum Inhalte beeinflusste, während die Seminare in ihrem organisatorischen Aufbau zeitweilig Familienstrukturen nachbildeten, beschreibt Gerster als Neuerung gegenüber den jeweils bestehenden Traditionen der Internatsschulen. Die Probleme und Gefahren der familiarisierten Internatserziehung, darunter (sexualisierte) Gewalt, kann Gerster hier überzeugend als strukturelle Folge des bürgerlichen Einflusses auf die Internatserziehung diskutieren.
Sowohl in Preußen als auch in Großbritannien folgte ab 1890 eine langsame Verschiebung, die Männlichkeitsanforderungen direkt den jugendlichen Körpern zuzuschreiben begann. Männlichkeit wurde in bestimmte physische Merkmale übersetzt, die - zu einem "Geschlechtscharakter" (131) zusammengeführt - als normierende Erwartung wirkte. Für diese zweite Phase kann Gerster zeigen, dass die Neuerungen nicht den rhetorischen Suggestionen der Internatsgründer entsprachen, mehr noch: meist eher pragmatische Reaktionen auf die Nachfrage, beispielsweise nach einer Ausbildung der bürgerlichen Töchter, oder ökonomische Nöte waren als programmatisch begründete Verschiebungen.
Die Abgrenzung der Männlichkeitskonstrukte von Weiblichkeitsvorstellungen thematisiert das Buch mehrfach. So beobachtet Gerster, wie die Abwesenheit von Frauen im homosozialen Internatsraum zur Reinszenierung des "binären Geschlechterverhältnis[ses]" (196) und zur Übernahme weiblicher Rollen, beispielsweise in Theaterstücken, durch Männer führte. Er legt auch dar, wie innerhalb der mannmännlichen Strukturen stetig Hierarchien gebildet wurden, die unter anderem an Funktionsstellen (Schulleitung, Lehrer) und Schüleralterskohorten ansetzten. Allerdings verdichtet Gerster diese Phänomene nicht zu einer Deutung, dass und in welchen wechselnden Weisen sich Männlichkeit durch Abgrenzungspraktiken realisierte. Eine solche Deutung, die sich sicher gut anschließen ließe an geschlechtertheoretische Überlegungen wie in Theweleits "Männerfantasien" [3], ist nicht leicht zu erarbeiten: Wie andere Studien bereits diskutiert haben [4], wurden Verfahren der vergeschlechtlichten Subjektivierung durch Abgrenzung im Falle von Männlichkeit - anders als bei Weiblichkeitskonstruktionen - meist still und beiläufig vollzogen. Gerster kann zeigen, dass die koedukative Öffnung der Internate überraschend folgenlos blieb für die Konstruktion der Männlichkeit an den Internaten. Dieser Befund könnte geschlechtertheoretisch durchaus als Ausdruck weiterbestehender, polarisierender Vergeschlechtlichungsstrategien diskutiert werden.
Gerster ist stärker im sozialgeschichtlichen Paradigma zuhause, was sich an der sprachlich und methodisch sehr überzeugenden Rekonstruktion der Rekrutierungs- und Karrierepfade der Absolvent:innen zeigt. Hier kann er nachweisen, dass die Internate kontinuierlich insbesondere Selbst- bzw. Statuserhalt bürgerlicher Mittelschichten ermöglichten. Für den englischen Sprachraum lässt sich das Buch im Ergebnis auf die Ablösung des christlichen durch den national geprägten englischen Gentleman verdichten. Eine solche begriffliche Verdichtung seiner Arbeitsergebnisse schlägt Gerster für den deutschen Sprachraum nicht vor, auch wenn er vereinzelt ein "humanistisch-protestantisches" (151) Männlichkeitsbild nennt. Dieses Konzept steht nur beispielhaft für weitere Abschnitte im Buch, wo Vergleiche zu katholischen Internaten ertragreich gewesen wären.
Dass Männlichkeitsvorstellungen trotz wiederholter Krisenbehauptungen und gewaltsamer Auseinandersetzungen wie dem Ersten Weltkrieg im Zeitraum 1870-1930 in weiten Teilen stabil blieben, ist wichtiges Ergebnis der Studie. Auch hier bieten sich Gerster zukünftig Möglichkeiten, diese Kontinuitätsthese mit geschlechtertheoretischen Vorarbeiten zu verbinden. [5] Erst in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg intensivierte sich die schleichende Erosion der bürgerlich geprägten Männlichkeitsvorstellungen, wenngleich insbesondere die britischen Internate erfolgreich in den etablierten Bahnen arbeiten konnten. Dies liegt Gerster zufolge in ihrer systematischen Alumni-Arbeit und einer Internationalisierung der Schüler:innenschaft begründet.
Gersters Arbeit nähert sich erfolgreich der vergeschlechtlichenden Internatswelt. In diesem erkundenden Sinne sind die konfessionelle Engführung, die gewählten nationalen Fälle und die geringe Zahl von Einrichtungen legitim. Bereits die sich aus dem Vergleich der Fälle ergebende Verbindung zwischen den englischen und deutschsprachigen Forschungsdiskursen lohnt. Weiterführende geschlechtertheoretische, transnationale und interkonfessionelle Studien können mit Gewinn auf Gersters Buch aufbauen.
Anmerkungen:
[1] Männlichkeiten wurden teilweise unter ähnlichen Titeln bereits für andere Schultypen und Bildungsbereiche thematisiert, siehe auch: Sebastian Zilles: Die Schulen der Männlichkeit. Männerbünde in Wissenschaft und Literatur um 1900, Köln / Weimar / Wien 2018; Ute Frevert: Das Militär als Schule der Männlichkeiten, in: Ulrike Brunotte / Rainer Herrn (Hgg.): Männlichkeiten und Moderne. Geschlecht in den Wissenskulturen um 1900, Bielefeld 2007.
[2] Neben den hier genannten Einzeltiteln sind allgemeinere Diskussionen in der vielfach stark theoriegeleiteten Frauen- und Geschlechterforschung zu nennen, wie sie beispielsweise zusammengeführt werden in: Jürgen Budde / Christine Thon / Katharina Walgenbach (Hgg.): Männlichkeiten - Geschlechterkonstruktionen in pädagogischen Institutionen, Opladen / Berlin / Toronto 2014.
[3] Klaus Theweleit: Männerphantasien, Berlin 2019.
[4] Tanja Paulitz: Objektive Distanz - subjektives Gefühl. Wissenschaftskultur und die Praxis des Erkennens und Erfindens in den Technikwissenschaften, in: Andreas Gelhard / Ruben Hackler / Sandro Zanetti (Hgg.): Epistemische Tugenden. Zur Geschichte und Gegenwart eines Konzepts, Tübingen 2019, 121-134.
[5] Edgar Forster: Männliche Resouveränisierungen, in: Feministische Studien 24.2 (2006), 193-207. DOI: 10.1515/fs-2006-0204.
Daniel Töpper