Amandine Postec: Matthieu d'Aquasparta. Portrait d'un maître en théologie franciscain au miroir de ses Quodlibets (= Bibliothèque d'Histoire Culturelle Du Moyen Âge; Vol. 25), Turnhout: Brepols 2024, 433 S., ISBN 978-2-503-60929-4, EUR 110,00
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Matteo d'Aquasparta (1240-1302) gehört zu den bekannten Franziskanerpersönlichkeiten des 13. Jahrhunderts. Seine Spuren hinterließ er als Universitätsgelehrter und Politiker, der mit einigem Geschick die Belange seines eigenen Ordens und diejenigen des Papsttums vertrat. Er amtierte als zwölfter Generalminister der Franziskaner und wurde 1288 zum Kardinal erhoben. Von seiner Verbundenheit zu Kunst und Kultur zeugt sein in der römischen Kirche Santa Maria in Aracoeli erhaltenes Grab. Vorliegender Band, hervorgegangen aus einer an der Université de Lyon-2 entstandenen Dissertation, widmet sich der Persönlichkeit Matteos ausgehend von einer exklusiven Quellengattung: Den Ausführungen zugrunde liegen seine universitären, in den letzten Jahrzehnten kritisch edierten Quodlibeta.
Ein Quodlibet, oder genauer: eine quaestio quodlibetalis, bezeichnet eine Diskussion über einen beliebigen Gegenstand - eben de quodlibet. Dabei dürfte es sich wohl um eine der eigentümlichsten Schöpfungen des Pariser Universitätsbetriebes handeln. Um 1230 zum ersten Mal nachweisbar, traten Quodlibeta sehr schnell ihren Siegeszug als universitäre Veranstaltungsform par excellence an und sind spätestens ab 1270 nicht nur an den Generalstudien der Bettelorden oder der Kurie, sondern auch an der Universität Oxford nachweisbar. Ihre Exklusivität war zunächst eine personelle und mit der tragenden Rolle der magistri regentes, d.h. der Professoren, verbunden, denen die abschließende Klärung der zuvor von zwei Studenten kontrovers diskutierten Fragen oblag. Daneben ergab sich Exklusivität aber auch aus Verknappung: lediglich zwei Mal im Jahr, in der vorösterlichen Fastenzeit und im Advent, fanden quaestiones quodlibetales überhaupt statt.
Der Band, in drei große, insgesamt acht Kapitel umfassende Abschnitte gegliedert (I. La formation initiale de Matthieu d'Aquasparta; II. L'Université de Paris; III. La carrière italienne), umfasst in chronologischem Durchgang die wichtigsten Stationen seiner Karriere, von der Tätigkeit im Schoß des Ordens der Minderbrüder, über seine Pariser Lehrtätigkeit als franziskanischer magister regens, bis hin zum Wirken an exponierter Stelle für das Papsttum.
Einer Familie des niederen Adels entstammend, deren Einfluss in und um Todi im Laufe des 13. Jahrhunderts stetig gewachsen war, trat Matteo in jungen Jahren in den Franziskanerkonvent San Fortunato in Todi ein. In den Konventen von Todi und Assisi wurden die intellektuellen Grundlagen gelegt: Im studium generale des Ordens in Paris, wo Matteo rund zehn Jahre verbrachte (1265-75), kamen sie zur Entfaltung. Wie von Amandine Postec überzeugend dargelegt, lässt sich der universitäre Parcours Matteos auf Grundlage der von ihm gehaltenen universitären Sermones näher bestimmen (eine autographe Sammlung seiner Predigten ist in Assisi, Biblioteca Comunale, ms. 460, erhalten).
Noch zu Lebzeiten verfügte Matteo 1287 testamentarisch eine Aufteilung seiner Handschriften zwischen den beiden Konventen in Assisi und Todi (zur Auflistung vgl. 100-102). Unter ihnen fanden sich auch seine in Paris und Rom entstandenen bzw. gehaltenen Quodlibeta. Die Analyse der Zitatverwendung offenbart, dass Matteo auf die Ausarbeitung von Zitatschleppen bewusst verzichtete: "La pensée de Matteo se veut toujours très claire et concise dans ses Quodlibets; par conséquent il n'utilise de citations aux autorités que lorsqu'elles justifient efficacement son propos". (113) Zu den angeführten Autoritäten gehörte - unangefochten an der Spitze - Augustinus ebenso wie Aristoteles und Anselm von Canterbury. Deutlich wird, dass, anders als von der Forschung früher behauptet, die frühen Franziskaner Aristoteles sehr wohl kannten und ihn für ihre Belange nutzten. Nachgewiesen wird, in welchem Umfang Matteo die (reich annotierten) Bände seiner eigenen Bibliothek für die Ausarbeitung der Quodlibeta heranzog. Das erste Quodlibet von 1277 entstand nur wenige Monate nach der Verurteilung von 219 Artikeln an der Artes-Fakultät durch den Pariser Bischof, die für einige Unruhe an der Universität sorgte. Matteo ging auf diese Verurteilung ein, stimmte ihr im Grundsatz zu, nahm einige Artikel (vor allem solche im Bereich der Angelologie) aber explizit davon aus. Einige der zentralen in den Quodlibeta behandelten Themen sind denn auch als Echo auf die Verurteilungen von Aegidius Romanus und Thomas von Aquin (dessen Schriften Matteo kannte und schätzte) zu verstehen.
1279 wurde Matteo zum Lector Sacri Palatii ernannt. Während seine ersten beiden Quodlibeta Pariser Ursprungs sind, entstanden die restlichen vier im römisch-kurialen Umfeld, auf dessen Erwartungshaltung bei der Auswahl der quaestiones reagiert wurde. Auch hier positionierte sich Matteo durchaus konträr zu den Lehrmeinungen seiner stark anti-thomistisch geprägten Ordensbrüder Guillaume de la Mare und John Peckham und griff immer wieder aktuelle theologische Entwicklungen (etwa zur Eucharistielehre) auf. Behandlung fanden auch aktuelle Debatten um den Zehnten, um die Verbindlichkeit von Gelübden oder das Problem der Pfründenhäufung. Auch dem Wirken der Justiz, der Richter und Anwälte wurde nachgespürt. Gerade mit Blick auf die Rolle von Anwälten betrat Matteo Neuland und ergänzte das, was Thomas von Aquin vor ihm bereits umrissen, aber nicht klar herausgearbeitet hatte: "Loin de généraliser l'obligation des avocats à défendre des pauvres, Matteo se montre soucieux des réalités économiques et des besoins de chacun." (259)
Seine juristischen Fähigkeiten stellte Matteo auch dann unter Beweis, wenn er sich zu Fragen der wirtschaftlichen und sozialen Organisation äußerte, sei es in Hinblick auf eine gute Vertragsgestaltung bei Besitzübertragungen oder die gerechte Abfassung von Handelsverträgen. Gerne hätte man in diesem Zusammenhang etwas mehr zum praktischen Ablauf der Quodlibet-Disputationen an der Kurie erfahren, dürfte sich das anwesende Publikum doch fundamental von demjenigen in Paris unterschieden haben.
1287 unterzeichnete Matteo nicht nur den Schenkungsvertrag für seine Bibliothek, sondern übernahm eine neue, eminent politische Rolle: die des franziskanischen Generalministers. 1288 erfolgte die Kardinalskreation. Bald wurde er zum Kardinalgroßpönitentiar ernannt - Matteo war der erste, der den Titel eines penitentiarius maior trug. Als Legat bewegte er sich mehr oder minder erfolgreich in unterschiedlichen geographischen und politischen Kontexten: Er galt als Experte in der sizilianischen Frage und scheute nicht davor zurück, sich im Konflikt zwischen Flandern und Frankreich klar auf Seiten ersterer zu positionieren. Sein vorsichtiges, diplomatisches und mit den jeweiligen Päpsten eng abgestimmtes Vorgehen stieß weder innerhalb seines eigenen Ordens noch außerhalb auf ungeteilte Zustimmung: "Matteo a toujours apporté son soutien aux papes élus, mais sa collaboration avec Boniface VIII a été particulièrement étroite." (309) Matteo wurde als herausragender Prediger wahrgenommen: Einige hochpolitische Predigten, in denen die päpstliche Machtvollkommenheit begründet wurde, zeugen von seinen Fähigkeiten.
Nach seinem Tod 1302 erfolgte die Rezeption seiner Texte verhalten und kam nach einigen Jahrzehnten ganz zum Erliegen. Zu Recht wird deshalb konstatiert: "L'héritage intellectuel de Matteo reste encore difficile à mesurer, mais l'héritage matériel est important. Les recherches sur cet auteur prolixe offrent donc encore de larges champs d'études." (347)
Drei Anhänge erleichtern den Zugriff auf die behandelten Themen (1. Les Quodlibets de Matteo: Liste des questions; 2. Liste des œuvres de Matteo; 3. Complément au legs de Matteo au couvent San Fortunato de Todi).
Der Band leistet einen wichtigen Beitrag zum Einfluss der Franziskaner in der universitären und kurialen Welt der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts und bringt mit den Quodlibeta Matteos von Aquasparta eine in diesem Rahmen bisher sträflich vernachlässigte Quellengattung eindrucksvoll zum Sprechen.
Ralf Lützelschwab