Jonas Osnabrügge: Die epigraphische Kultur an Oberrhein und Neckar in römischer Zeit (= HABES. Heidelberger Althistorische Beiträge und Epigraphische Studien; Bd. 66), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2024, 704 S., 4 s/w-Abb., ISBN 978-3-515-13556-6, EUR 98,00
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Ziel des anzuzeigenden Buches, der Heidelberger Dissertation von Jonas Osnabrügge, sind die Erforschung und Darstellung der epigraphischen Kultur entlang der "Hauptverkehrsachsen Oberrhein und Neckar" (14), wobei es sich grob gesagt um Germania Superior südlich von Mainz und nördlich von Windisch handelt.
Epigraphische Kultur definiert der Autor in seiner Einleitung (13-43) als "Summe der Praktiken, welche an und mit Inschriften durchgeführt werden". (18) Hierbei spielt natürlich auch der sogenannte 'epigraphic habit' (MacMullen) eine Rolle, welchen Osnabrügge versteht als "internalisiertes System von Dispositionen, die zur Aufstellung von mit Inschriften versehenen Monumenten führen". (16)
Die "Methodischen Vorbemerkungen" (44-81) gehen, nach Unterkapiteln zur Datierung der obergermanischen Inschriften und der Typisierung der bekannten Inschriftenträger, auf die Bedeutung und Funktion von Grab- und Weihinschriften ein. Hier finden sich viele lehrreiche Ausführungen, beispielsweise zur juristischen Funktion der Grabinschriften und der konkreten Nutzung von Altären, die auf private Initiative hin aufgestellt worden sind. Zu Recht bemerkt Osnabrügge, dass sakrale Inschriften nicht nur die Kommunikation mit den Überirdischen, sondern auch diejenige mit den Mitmenschen dokumentierten. Hinsichtlich der Präsenz macht Osnabrügge darauf aufmerksam, dass Grabinschriften einige Zeit nach dem rituellen Akt, der Bestattungszeremonie, aufgestellt worden sein dürften. Zumindest für Grabinschriften aus Stein wird diese Beobachtung zutreffend sein, wobei auch unter diesen viele zu Lebzeiten (vivus) erstellt wurden. Wenn Osnabrügge wiederum für Weihinschriften annimmt, dass diese durchgängig Teil des rituellen Prozederes gewesen seien, da "das einfache, unzeremonielle Aufstellen eines Votivgeschenkes wie eines Altars, eines Reliefs oder einer Statue" "schwer vorstellbar" und deshalb "vor großem Publikum erfolgt" sei (74), sollte man anmerken, dass wir derartige Weihungen auch von Durchreisenden in Kultbezirken an Straßen kennen. Hier wie dort muss man sicherlich differenzieren.
Das folgende Kapitel (82-138) geht auf die Fundverteilung der insgesamt 1.567 Inschriften ein, wobei sich interessante geographische Unterschiede (v.a. Nord-Süd-Gefälle) zeigen, die Osnabrügge unter Berücksichtigung der vielen Unwägbarkeiten plausibel erklären kann. Ferner wird hier dargelegt, dass der Untersuchungsraum in Hinblick auf Anzahl und Charakterisierung (sakral/funeral) der Tituli anderen vergleichbaren Räumen (z.B. Dakien) entspricht. Material (v.a. heimisch), zeitliche Streuung (severischer 'Boom') und genannte Namen (keine 'keltische Renaissance'!) werden ebenfalls detailliert aufgearbeitet.
Im Anschluss wird der 'habit' der beiden stärksten Inschriftengruppen, den Weih- (139-262) und den Grabinschriften (263-351), untersucht. Bei den Weihinschriften berücksichtigt Osnabrügge auch die anepigraphischen Stücke (löblicherweise mit online-Katalog!). Auf diese Weise kann Osnabrügge zeigen, dass beispielsweise Epona v.a. Darstellungen ohne Inschrift gewidmet wurden. Ferner relativieren die anepigraphischen Denkmäler das erwähnte Nord-Süd-Gefälle. Osnabrügge ist über das ganze Kapitel bemüht, den Eindruck der Forschung zu relativieren, dass Weihungen ohne Inschrift 'etwas fehlt'. Während bei den Beneficiarieraltären eine Aufstellung ohne Inschrift tatsächlich undenkbar gewesen sei, galt das für Weihungen in Mithräen gerade nicht. Bei den Erwägungen, warum große Teile der Tempelausstattung, wie Statuen etc., keine Inschrift tragen (163f.), sollte vielleicht noch Berücksichtigung finden, dass diese möglicherweise von der Kultgemeinde insgesamt finanziert wurden, weshalb eine Inschrift unnötig war; ferner existieren verschiedentlich Tempelbauinschriften in den Nordwestprovinzen, in denen Gebäude cum signis, ornamentis etc. gestiftet wurden - auch hier war das Versehen dieser Stücke mit Text unnötig. Bei der Diskussion der Unterscheidung zwischen votum/donum (184-189) ist es sicherlich richtig, den jeweiligen Text ernst zu nehmen, auch wenn sich votum/donum, wie einige wenige Weihungen zeigen, nicht durchgängig streng scheiden lassen. Grundsätzlich sollte aber auch bei der Formel VSLLM wie bei INHDD erwogen werden, dass sie häufiger "pro forma dort stand". (208)
Bei den Grabinschriften wird erneut das anepigraphische Material einbezogen, wodurch sich zeigt, dass mit mehr Grabsteinen zu rechnen ist, als die Berücksichtigung der entsprechenden Inschriften allein deutlich macht. Die Ausgestaltung der Grabmonumente macht es zudem möglich, Einflüsse aus dem treverischen und mediomatrikischen Raum nachzuweisen (275, 283, 306). Bei den Grabinschriften der Soldaten macht Osnabrügge auf die unterschiedlichen Trends des 1. und des 2./3. Jahrhunderts n.Chr. aufmerksam (287-289, 329-331), die auch anderswo zu beobachten sind: Während Grabinschriften von und für Militärs aus dem erstgenannten Zeitraum in großer Zahl erhalten sind, sind für spätere Zeiten generell kaum noch entsprechende Grabsteine, auch nicht von Veteranen, bekannt, obgleich Soldaten oft in Weihinschriften genannt werden. Osnabrügge denkt, dass die vielen Dislokationen im 2./3. Jahrhundert oder eine Wandlung des 'epitaphic habit' hierfür verantwortlich sein könnten. Ohne diese Erwägungen abstreiten zu wollen, sei noch darauf hingewiesen, dass die frühen Soldatengrabsteine im Dienst verstorbene Soldaten nennen, die nicht in der weit entfernten Heimat bestattet werden konnten. Später, als die Soldaten direkt aus der Provinzbevölkerung ausgehoben wurden, war dies anders, und die Angehörigen legten unter Umständen nicht den gleichen Wert auf die Nennung der militärischen Position wie die commilitones.
Ein kürzerer Abschnitt ist den öffentlichen Inschriften und der "Forums-Epigraphik" gewidmet (352-381). Auch hier berücksichtigt Osnabrügge anepigraphisches Material, insbesondere Bruchstücke von Kaiserstatuen. Bau- und Ehreninschriften finden sich v.a. im militärisch geprägten Raum. Die zivile "Forums-Epigraphik" war dagegen vergleichsweise schwach ausgeprägt. Osnabrügge ist der Ansicht, dass man sich stattdessen auf monumentale Grabmäler und Iupitersäulen fokussierte, ferner auf das massierte Setzen von Meilensteinen.
Das letzte Kapitel zeichnet "Die Geschichte der epigraphischen Kultur an Oberrhein und Neckar" (382-462) nach. Notgedrungen wiederholt sich in diesem Abschnitt manches, was bereits vorher diskutiert wurde, so die "Verlagerung von Grab- auf Weihinschriften" (423-428; s.o.), die an dieser Stelle noch ausführlicher diskutiert wird. Die frühchristlichen Inschriften werden dagegen erstmals berücksichtigt (448-450). Eine "direkte Verbindung" zum "epitaphic habit" der Antike wird zu Recht ausgeschlossen (450).
Der Band wird abgeschlossen durch "Fazit und Ausblick" (463-471), einen Inschriftenkatalog (473-572), Abkürzungs-/Literaturverzeichnis (573-649), Karten (650-676) und mehrere Indices (677-702; ohne Inschriftenindex).
Es gibt, wie Osnabrügge am Ende des Bandes feststellt, nicht "die epigraphische Kultur der Römer". (463) Natürlich sind reichsweit viele Gemeinsamkeiten erkennbar, in den Details aber auch wichtige Unterschiede, die den Wert von regional orientierten Studien ausmachen. Die vorgelegte Untersuchung hat gezeigt, dass es in den Randbezirken für bestimmte Bereiche des 'epigraphic habit' stärkere Beziehungen zu den angrenzenden civitates gab als innerhalb des Untersuchungsgebiets. Insofern hätte man sicherlich einen anderen geographischen Zuschnitt wählen können. Andererseits ist dies ein Ergebnis der Untersuchung (470). Es ehrt den Autor zudem, dass er das Ausklammern der Kleininschriften als "Nachteil" (26f., 470) bezeichnet. In der Tat öffnen diese Erkenntnisse in erster Linie aber weitere Forschungsperspektiven. Osnabrügge selbst hat eine beeindruckend kenntnisreiche und forschungsnahe Studie vorgelegt, die für lange Zeit ein wichtiger Bezugspunkt für die epigraphische Arbeit zu Obergermanien bleiben wird.
Krešimir Matijević