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Acelya Bakir: Sehen, Hören, Mitmachen. Die mediale Inszenierung der Moskauer Schauprozesse und die Mobilisierungskampagnen in der Sowjetunion (1936-1938) (= Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa; Bd. 93), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2025, 432 S., 124 Farb-, 4 s/w-Abb., ISBN 978-3-515-13683-9, EUR 70,00
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Rezension von:
Anne Hartmann
Bochum
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Anne Hartmann: Rezension von: Acelya Bakir: Sehen, Hören, Mitmachen. Die mediale Inszenierung der Moskauer Schauprozesse und die Mobilisierungskampagnen in der Sowjetunion (1936-1938), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2025, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 5 [15.05.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/05/40111.html


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Acelya Bakir: Sehen, Hören, Mitmachen

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Nur einige Hundert Personen waren als Augenzeugen zu den drei großen Moskauer Schauprozessen der Jahre 1936 bis 1938 zugelassen. Wie die gesamte Sowjetunion dennoch zum Resonanzraum des Geschehens in Moskau wurde, dessen Botschaften mit dem Ziel maximaler Involvierung der Bevölkerung in jeden Winkel des Landes getragen wurden, untersucht Acelya Bakir in ihrer mehrfach ausgezeichneten Dissertation. Je nach Prozess variierten die Anklagen, doch liefen sie sämtlich auf Hochverrat und Konterrevolution hinaus, wobei das Narrativ einer Verschwörung im Inneren mit dem Szenario der Bedrohung von außen verknüpft wurde. Dabei war der eigentlich Angeklagte gar nicht anwesend, nämlich Stalins 1929 des Landes verwiesener Widersacher Leo Trotzki als der angebliche Drahtzieher hinter den verbrecherischen Komplotten.

Bisher wurden vor allem die machtpolitischen Hintergründe und juristischen Abgründe der Prozesse untersucht, wobei insbesondere das Rätsel der Geständnisse Zeitgenossen wie Nachgeborene bewegte. Demgegenüber konzentriert sich Bakir, die ihre Arbeit in der Visual History verortet, auf die "Schauseite der Moskauer Prozesse" (24), worunter sie die theatrale Inszenierung im Gerichtssaal (Kapitel 2) ebenso versteht wie die mediale Kommunikation der Prozessbotschaften (Kap. 3) und die Mobilisierungsfunktion, die damit verbunden war (Kapitel 4). Die Analyse beruht auf reichem Archivmaterial, das in Moskau sowie in Stadt und Gebiet Čeljabinsk erschlossen wurde und durch die Auswertung von 18 überregionalen und regionalen Periodika ergänzt wird. Gestützt auf ein breites Spektrum an Sekundärliteratur, zeichnet sich die Studie durch methodische Reflektiertheit, vorzügliche Bilddokumentation und Akribie aus, wobei eine gewisse Umständlichkeit und manche Wiederholungen der Preis sind für eine Darstellung, die in allen Schritten präzise sein will.

Bakir zeigt, dass es sich lohnt, die Inszenierung vor Ort - räumliche Gegebenheiten, Sitzordnung, Einlasspolitik, Rolle der Akteure etc. - genau zu betrachten. So macht sie darauf aufmerksam, dass die Verhandlungen im Oktobersaal des Moskauer Hauses der Gewerkschaften stattfanden, der lediglich halb so viel Raum bot wie der viel bekanntere Säulensaal, Schauplatz der wichtigsten früheren Schauprozesse. Überraschend ist der Befund, dass der Bericht zum Verfahren im Sommer 1936 zwar in mehreren Fremdsprachen, jedoch nicht auf Russisch erschien, obwohl ein jeweils eingefügtes russischsprachiges Titelblatt suggerierte, es handle sich um eine Übersetzung. Als Erklärung führt die Autorin an, dass "primär die Weltöffentlichkeit überzeugt werden sollte" (322). Mit Erfolg? Dagegen spricht die weithin verheerende Wirkung des Prozesses im Ausland.

Doch die westlichen Reaktionen stehen nicht im Mittelpunkt der Untersuchung. Vielmehr geht es um die sowjetische Bevölkerung, die lesen, hören, sehen und sich beteiligen sollte. Grundlage der Kampagnen waren die Zeitungen, die die Prozesse publizistisch begleiteten, wobei sich der Kreis der Rezipienten durch (meist gemeinschaftlich gehörte) Rundfunkübertragungen erweiterte. Flankiert wurde die Presseberichterstattung von Resolutionen und Leserbriefen, in denen ein "Chor der Entrüsteten" (350) zu Wort kam. Die Prozesse wurden als Plebiszit inszeniert, als Gericht und Urteil des Volkes. Niemand durfte beiseitestehen; in Fabriken, Kolchosen, Schulen und auf den Plätzen kamen die Menschen zusammen, um - teils mit namentlicher Abstimmung und per Unterschrift beglaubigt - den Tod der Angeklagten zu fordern. Bakir spricht von "Ermächtigung" und einem "Inklusionsangebot", erwähnt aber auch den Beteiligungsdruck und gesellschaftszersetzenden Effekt des obligatorischen Mitmachens.

Eingehend befasst sich die Studie mit der visuellen Kommunikation und begreift die prozessbegleitenden Karikaturen, Plakate, Pressefotografien, Wochenschauen sowie den - einzigen - Prozessfilm Prigovor suda - prigovor naroda ("Das Urteil des Gerichts ist das Urteil des Volkes") als wirkungsvolle Mittel der Mobilisierung. Rückblicke auf Geschichte und Produktionsbedingungen der einzelnen Medienformate in der Sowjetunion werden verbunden mit genauer Analyse dessen, was jeweils gezeigt wurde und verstanden werden sollte. Innovation und Originalität waren nicht gefragt (und wären zudem riskant gewesen), vielmehr sollten die Visualisierungen die Prozesserzählung multiplizieren, damit diese "zu einer Realität wurde, die ihre Betrachter als solche annahmen" (224).

Da sie sich eng an das offizielle Narrativ hielten, wiesen etwa die Karikaturen große Übereinstimmung "in ihren Bildinhalten, ihrer Bildsprache und Ikonographie" (186) auf. Bei den Plakaten war die Ausbeute auch in quantitativer Hinsicht dürftig und beschränkt sich auf zwei Exemplare mit explizitem Prozessbezug. Auf den Pressefotografien waren die Angeklagten nicht zu sehen (wie ihre Stimme im Rundfunk nicht zu hören war); abgebildet sind diverse Gruppen, die die Zeitungen studieren oder sich zu Kundgebungen versammeln. Aus welchem Anlass dies geschieht, ist oft nicht ersichtlich, so dass viele Fotos motivisch austauschbar sind. Die "visuelle Ausmerzung" (239) der Angeklagten setzt sich in den Wochenschauen fort, selbst im Prozessfilm werden sie nur sekundenweise gezeigt. Interpretiert wird dies als Bestreben, die Feinde "aus der kollektiven Erinnerung und dem Geschichtsbild" (321) zu tilgen. Hinzuzufügen wäre: Wie hätte man sie als - distinguierte oder gequälte - Herren fortgeschrittenen Alters zeigen können, wenn sie gleichzeitig zu einer sogenannten Mörderbande herabgewürdigt und als "Natterngezücht" oder "tollwütige Hunde" dehumanisiert wurden?

Von einer "Macht der Bilder, die den Ansatz begründet, außertextliche Medien als entscheidend für den Vermittlungsprozess zwischen Staat und Bevölkerung zu begreifen" (48), kann also nur bedingt die Rede sein, aus drei Gründen, die Bakir letztlich selbst benennt:

1. Die Visualisierungen verstärken lediglich die schriftlich vermittelten Botschaften und unterstreichen somit deren Primat, sodass die monologisch autoritäre Diktion sowie Provenienz und Verwendung der stereotypen Feindbilder mehr Aufmerksamkeit verdient hätten. [1]

2. Abgesehen von den Karikaturen, die in den endlosen Zeitungsspalten optisch fast verschwinden (siehe etwa Seite 175) und den gleichförmigen Fotografien kamen visuelle Medien nicht in größerem Umfang zum Einsatz.

3. Zudem schöpften sie "ihr grundsätzlich vorhandenes Potential nicht annähernd" aus (381) und hinterließen - anders als beispielsweise Plakate zur Industrialisierung oder zum Großen Vaterländischen Krieg - keine dauerhaften Spuren im sowjetischen Bildgedächtnis.

Ebenso wie die Frage, inwieweit der Einzelne aus Überzeugung, Konformismus oder Zwang mitmachte, muss die Frage nach der behaupteten "Wirksamkeit der visuellen sowjetischen Propaganda" (48) daher offenbleiben. Das schränkt den Wert der Studie keineswegs ein, die diesen Aspekt des prozessbegleitenden ideologischen Trommelfeuers, dem sich im geschlossenen Echoraum der damaligen Sowjetunion praktisch niemand entziehen konnte, erschöpfend untersucht.


Anmerkung:

[1] So stammt z. B. die "omnipräsente Forderung, die Angeklagten vom Angesicht der Erde wegzuwischen (steret' s lica zemli)" (283) aus dem Buch Hiob (18,18 - die Frevler werden vom Erdboden verstoßen) und wurde schon von Lenin verwendet - 1920 in Verbindung mit der Aufforderung, die Republik Georgien zu vernichten.

Anne Hartmann