Jürgen von Ungern-Sternberg: Delos und Delphi. Wege und Irrwege zweier deutsch-französischer Inschrifteneditionen (= Auctarium / Avctarivm. Series Nova; Vol. 10), Berlin: De Gruyter 2024, VII + 157 S., 8 Farb-, 22 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-156035-9, EUR 99,95
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Clément Sarrazanas: La cité des spectacles permanents. Organisation et organisateurs des concours civiques dans l'Athènes hellénistique et impériale, Pessac: Ausonius Editions 2022
Christer Bruun / Jonathan Edmondson (eds.): The Oxford Handbook of Roman Epigraphy, Oxford: Oxford University Press 2015
Rene Pfeilschifter: Der Kaiser und Konstantinopel. Kommunikation und Konfliktaustrag in einer spätantiken Metropole, Berlin: De Gruyter 2013
Jürgen von Ungern-Sternberg: Römische Studien. Geschichtsbewusstsein - Zeitalter der Gracchen - Krise der Republik, München: K. G. Saur 2006
Leonhard Burckhardt / Klaus Seybold / Jürgen von Ungern-Sternberg (Hgg.): Gesetzgebung in antiken Gesellschaften. Israel, Griechenland, Rom, Berlin: De Gruyter 2007
Jürgen von Ungern-Sternberg: Griechische Studien, Berlin: De Gruyter 2009
Pünktlich zum hundertsten Todestage der Epigraphiker Théophile Homolle und Hans Pomtow im Jahre 1925 beleuchtet Jürgen von Ungern-Sternberg ein besonders interessantes Kapitel deutsch-französischer Zusammenarbeit um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Interessant vor allem deshalb, weil es eindringlich zeigt, wie das Gelingen epigraphischer Großprojekte vom persönlichen Vertrauen der Beteiligten, aber auch von politischen Zeitläufen abhängt. Für die vorliegende Studie hat der Autor, durch Arbeiten zur deutsch-französischen Wissenschaftsgeschichte vielfach ausgewiesen [1], in großem Umfang auf Unterlagen in Paris wie in Berlin, etwa im Fonds Louis Robert und im Archiv der Inscriptiones Graecae, zurückgreifen können.
Der erste Teil, der den größten Teil des Buches einnimmt, widmet sich auf der Grundlage deutscher wie französischer Archivalien den delphischen Inschriften und den Irrwegen ihrer wissenschaftlichen Publikation (1-116). In zwei Anhängen trägt Klaus Hallof zudem Wichtiges zur Biographie Hans Pomtows, eines der Protagonisten des Bandes, bei (117-123). Hier kann Hallof ein Portrait des Berliner Epigraphikers identifizieren und damit seine eigene Annahme korrigieren, die er anlässlich des Berliner Epigraphikkongresses 2012 präsentiert hatte. [2]
Ungern-Sternberg zeichnet das "Scheitern eines deutsch-französischen Projekts" - so der pointierte Untertitel des ersten Kapitels - chronologisch nach, von der Wiederentdeckung Delphis, über die ersten wissenschaftlichen Ausgrabungen und ein Abkommen zwischen den Akademien in Paris und Berlin, das die Publikationen der Inschriften regeln sollte, bis zu Provokationen und Missverständnissen einzelner Gelehrter auf beiden Seiten. Dabei spielten Théophile Homolle in Paris und Hans Pomtow in Berlin die Hauptrollen dieses Dramas, in dem sich beide nicht mit Ruhm bekleckerten. Homolle, weil er offenbar schon früh das Abkommen von 1899, "das eine Teilung der Herausgeberschaft [des Bandes der delphischen Inschriften] festgelegt hatte" nicht einzuhalten gedachte (66-67), Pomtow, der "seit 1887 Delphi zu seiner Lebensaufgabe gemacht" hatte, nicht nur bei französischen Kollegen, sondern auch in Berlin durch seine Art auf großes Unverständnis gestoßen war.
Bereits 1894 hatte ein "Eklat" gedroht (14; 85), doch spätestens 1913, mit Pomtows Publikation von 26 unveröffentlichten Inschriften aus Delphi, war "ein Damm gebrochen" (92), war der "Rubikon überschritten" (87).
Für die Wissenschaftsgeschichte ist der Fall der delphischen Inschriften deshalb bedeutsam, weil hier deutlich wird, dass es nicht in erster Linie die Politik war, die das gemeinsame Projekt verhinderte, sondern, wie der Autor überzeugend darlegt, persönliche Versäumnisse und Animositäten: Pomtows Publikation wurde in Paris schon 1913 als "Kriegserklärung" gedeutet (115). Der "Graben war somit schon vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs nicht mehr überbrückbar" (94). Trotzdem ist es erhellend zu lesen, dass Wilamowitz, dem Pomtows unberechenbares Verhalten ebenfalls ein Dorn im Auge war (66), noch im Januar 1914 einen "Ausgleichsversuch" unternahm (89).
In anderer personeller Konstellation konnte ein solches Unternehmen, wie die Edition der Inschriften von Delos zeigt, - zumindest bis zum Bruch von 1914 - schnell und in freundschaftlicher Atmosphäre voranschreiten. Das zweite, deutlich kürzere Kapitel zu Delos (125-152) ist eine leicht überarbeitete Fassung eines Beitrags von 2008. [3] Ihn hier mitaufzunehmen, war eine gute Entscheidung, nicht nur, weil bei der Edition der beiden Corpora ein Großteil der schon bekannten Protagonisten mitwirkten, sondern weil auf diese Weise deutlich wird, was auch bei den "epigraphischen Fehden" (103) um die Inschriften von Delphi möglich gewesen wäre. Für die französischen und deutschen Wissenschaftler stand bei Delos einzig die zügige Publikation im Mittelpunkt. Der Autor identifiziert mit Maurice Holleaux auch einen "Helden", der maßgeblich für das Voranschreiten sorgte (152). Auf dieser Basis konnten die wissenschaftlichen Bande in den Zwanziger Jahren rasch wiederaufgenommen werden, während über den Inschriften von Delphi über Jahrzehnte Pomtows dunkler Schatten lag (106-113, bes. 112).
Leider ergeben sich aus dem Wiederabdruck des Kapitels etliche wörtliche Wiederholungen, die bei einer durchgehenden Lektüre des vorliegenden Bandes stören (z. B. 19 = 131-130 [einmal "19e siècle", einmal XIXe siècle" transkribiert]; 50 A. 24 = 133 A. 24; 75/76 = 135; 84 = 138). Hier wäre eine gründliche Revision wünschenswert gewesen. Im Ganzen ist das Buch gut redigiert, doch manches Versehen wäre zu vermeiden gewesen. So ist etwa Adolf Kirchhoff nicht 1825 (9), auch nicht 1926 (131), sondern 1826 geboren (so korrekt 129); die Kapitel zu Hans Pomtow und seinem Sohn firmieren als Anhänge I und II, nicht als "Kapitel 6" (so 105 A. 244).
Der Autor hat auf breiter archivalischer Quellenlage einen wichtigen Beitrag zu einem deutsch-französischen Großprojekt vorgelegt. Hierbei konnte er auch auf die Expertise Anne Jacquemins, einer der besten Kennerin der delphischen Epigraphik zurückgreifen, mit der zusammen der Band ursprünglich hätte geschrieben werden sollen. [4] Seine Urteile schonen die Protagonisten nicht, sind aber durchweg abgewogen, weil sie Versäumnisse wie Verdienste klar benennen und das Handeln der Protagonisten wissenschaftshistorisch einordnen. Indem deutlich wird, welche Rolle persönliche Motive bei der Zusammenarbeit gespielt haben, trägt der Band auch dazu bei, das Bild, die deutsch-französische Zusammenarbeit sei allein aus politischen Motiven nach 1914 zerbrochen, zu relativieren. Dafür ist ihm zu danken.
Anmerkungen:
[1] Verwiesen sei nur auf Ève Gran-Aymerich / Jürgen von Ungern-Sternberg: L'antiquité partagée. Correspondances franco-allemandes 1823-1861 (Karl Benedikt Hase, Désiré Raoul-Rochette, Karl Otfried Müller, Otto Jahn, Theodor Mommsen), Paris 2012. Und die gesammelten Beiträge in Jürgen von Ungern-Sternberg: Les chers ennemis. Deutsche und französische Altertumswissenschaftler in Rivalität und Zusammenarbeit (Collegium Beatus Rhenanus; 7), Stuttgart 2017. Nachdem diese Rezension geschrieben wurde, wurde bekannt, dass Jürgen von Ungern-Sternberg am 14. April verstorben ist, vgl. den Nachruf von Stefan Rebenich, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22. April 2025.
[2] Klaus Hallof: Inscriptiones Graecae. Imagines Epigraphicorum/Epigraphikerbildnisse, Berlin 2012, 29.
[3] Bereits wiederabgedruckt in: von Ungern-Sternberg, Les chers ennemis (wie Anm.1), 185-201. Auch die Untersuchung zu Delphi war bereits seit dieser Zeit angekündigt, vgl. K. Hallof, "... aber gerade darum ist es eine akademische Aufgabe". Das griechische Inschriftenwerk der Berliner Akademie in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Annette M. Baertschi / Colin G. King (Hgg.): Die modernen Väter der Antike. Die Entwicklung der Altertumswissenschaften an Akademie und Universität im Berlin des 19. Jahrhunderts, Berlin / New York 2009, 423-443, hier 436, Anm. 44.
[4] Siehe von Ungern-Sternberg: Les chers ennemis (wie Anm.1), 189 sowie im Vorwort des vorliegenden Bandes.
Christoph Begass