Rezension über:

Dominique Poirel: L'amour au Moyen Âge. Est-il un, est-il pluriel ?, Turnhout: Brepols 2025, 244 S., 1 Farb-Abb., ISBN 978-2-503-61512-7, EUR 45,00
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Rezension von:
Albrecht Classen
The University of Arizona, Tucson, AZ
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Albrecht Classen: Rezension von: Dominique Poirel: L'amour au Moyen Âge. Est-il un, est-il pluriel ?, Turnhout: Brepols 2025, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 5 [15.05.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/05/40084.html


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Dominique Poirel: L'amour au Moyen Âge

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Erneut hat sich eine Gruppe von Mediävisten aufgemacht, das uralte Thema der (höfischen) Liebe im Mittelalter zu erforschen, nicht, weil es ein Desiderat darstellen würde, weit gefehlt, sondern weil die auf einem von dem hochangesehenen Dominique Poirel organisierten und geleiteten Kolloquium gehaltenen Vorträge (Ort und Zeit werden nicht erwähnt) der wissenschaftlichen Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden sollten. Poirel selbst ist es nur zu bewusst, um welch ein weites Feld es sich hierbei handelt, und dass solide Untersuchungen zu diesem Sujet sich zunächst mit einem Berg von einschlägigen Studien auseinandersetzen müssten, um den Neuansatz zu rechtfertigen. Trotzdem hat man etwas naiv den Versuch gewagt, wovon das vorliegende relativ schmale Büchlein Zeugnis ablegt, auch wenn es von vornherein offenkundig ist, wie schwer es sein dürfte, auf so knappem Raum tatsächlich eindeutig neuartige und konkrete Ergebnisse vorzulegen.

Schließlich wurde ja seit dem Hochmittelalter Liebe aus vielerlei Perspektiven diskutiert, sei es diejenige der Philosophie, sei es die der Theologie, sei es als Reflex auf säkular-erotische Empfindungen, sei es als spielerisches Element. Liebe konnte mithin als Medium eines intellektuellen Spieles aufgefasst werden oder als Ausdrucksform tiefster mystischer Visionen. Wo liegen die Grenzen zwischen cupiditas und caritas, wie Poirel selbst fragt, und wie soll man die vielfachen Ansätze zur kritischen Erfassung dieses Phänomens von Pierre Rousselot (gestorben 1915), Anders Nygren (gestorben 1978), Denis de Rougemont (gestorben 1939) oder Charles Baladier (gestorben 2016) unter einen Hut bringen (andere einschlägige Forscher scheinen für den Herausgeber oder die Beiträger nicht existiert zu haben)? Nun, es 'gelingt' Poirel etwa dadurch, dass er einfach eine höchst beschränkte Linse einsetzt und weitgehend die gesamte anglophone, italienische oder deutsche Forschung ignoriert. Und weil er fast nur theologische oder philosophische Ansätze integriert, fällt fast die gesamte weltliche Literatur des Mittelalters weg, wo ja die Vertreter der Troubadour-Dichtung, des Minnesangs, der amor courtois, oder amor cortezia etc. eine zentrale Rolle spielten und diese Thematik höchst dialektisch und kontrovers diskutierten. Zuletzt scheint das Erfolgsrezept auch darin zu bestehen, Gender-Fragen schlicht unter den Tisch fallen zu lassen, obwohl doch 'Liebe' stets noch die Beziehung zwischen den Geschlechtern (auch im Falle der Homosexualität) bestimmte.

Völlig vor den Kopf geschlagen sieht man sich dann der Auswahl an Aufsätzen gegenüber, die an und für sich genommen durchaus auf gründlicher Quellenbasis den Aspekt 'Liebe' untersuchen, wie er von Peter Abelard (Matthias Perkams), Bernhard von Clairvaux und Guillaume de Saint-Thierry (Philipp Nouzille), Hugo von St. Viktor (Dominique Poirel), Bonaventura (Matthieu Bernard), Duns Scotus (Ide Lévi) und dann sogar von Petrarca (Sabrina Ferrara) behandelt wurde. Es geht jedoch praktisch allein darum, wie die göttliche Liebe von diesen berühmten Gelehrten beurteilt wurde, und nicht um die höfische, die weltliche Liebe, sehen wir von Petrarca ab, der hier kurz mitberücksichtigt wird.

Dies macht sich gleich zu Beginn bemerkbar, wo der Herausgeber in einer kleinen Studie die wesentliche Nomenklatur der zentralen Begriffe wie cupido, aviditas, libido, desiderium, affectus, amor, caritas etc. durchackert. Im Wesentlichen betrachtet er somit das Phänomen allein als ein religiöses, und nicht weltliches, wie die Arbeit von Gilbert Dahan zur Gestaltung von Liebe im Hohenlied illustriert. Natürlich wäre das durchaus legitim, wenn der Sammelband auch entsprechend so angekündigt würde. Aber weil auch ein Aufsatz von Michel Zink integriert wurde, der dann doch ein wenig Licht auf die Troubadour-Lyrik wirft, ohne jegliche Neuerkenntnisse vorzustellen (ein geradezu jämmerlicher wissenschaftlicher Apparat!), fragt man sich ernsthaft, ob der Sammelband überhaupt durch eine nachvollziehbare Grundthese getragen wird. Zink streift zwar einmal ganz flüchtig Andreas Capellanus, hat aber offensichtlich keine Ahnung, welche Relevanz dessen Traktat haben mag und wie die Forschung der letzten vierzig Jahre darauf eingegangen ist.

Wendet man sich der Untersuchung von Perkams zur Korrespondenz zwischen Abelard und Heloise zu, stößt man zwar auf wichtigere Forschung zu den theologischen Quellen, die dieser berühmte Philosoph konsultiert hatte, aber alle wesentlichen Punkte zu den beiden Personen und ihrem Verhältnis zueinander, das ja hochkontrovers diskutiert worden ist, fehlen schlichtweg. Damit wirkt auch diese zunächst recht ordentliche Arbeit eher fadenscheinig und fast fehlgeleitet. Wie man anhand des Aufsatzes von Nouzille konstatieren muss, hat er zwar die Vorstellung von caritas bei Bernhard von Clairvaux und Wilhelm von Saint-Thierry gut in den Griff bekommen, aber wie passt dies überhaupt in den vom Buchtitel angedeuteten Zusammenhang, nämlich die kontroverse und komplex geführte Diskussion zum Liebeskonzept im Mittelalter? Man hätte zwar mit Dante einen wertvollen Brückenschlag unternehmen können, aber obwohl sein Name mehrfach im Index auftaucht, stimmt dies mehrfach gar nicht, und ansonsten findet er nur ganz flüchtige Erwähnung.

Natürlich haben Gelehrte und Mönche im Mittelalter vielfach den Begriff der 'Liebe' benutzt, um ihre intellektuelle oder spirituelle Freundschaft zueinander oder ihr Streben nach Gott auszudrücken, aber dies hat kaum etwas mit Homosexualität oder Erotik zu tun, was Nouzille zu reflektieren bemüht ist, ohne sich in der relevanten Forschung umzuschauen oder einschlägige parallele Beispiele heranzuziehen, die das ganze Problem auf die Ebene der Männerfreundschaft gebracht hätten (vgl. dazu Aelred de Rievaulx, den Zink zwar einmal kurz zitiert, den Nouzille aber nicht erwähnt).

Natürlich bediente sich Hugo von St. Viktor des Liebesbegriffes, um theologische Reflexionen anzustellen (Poirel), aber zum einen wissen wir dies schon sehr lange, und zum anderen besagt dies letztlich für unser Thema kaum etwas. Da sich aber Poirel ebenfalls praktisch gar nicht um die einschlägige Forschung kümmert, können wir diese Arbeit im Grunde abhaken. Sehr seltsam wirkt die Untersuchung von Lydwine Scordia zur politischen Kommunikation vom zwölften bis zum fünfzehnten Jahrhundert, in der der Liebesbegriff mehrfach eingesetzt wurde, um diplomatische Beziehungen auszusondieren (John of Salisbury, Gilles de Rome etc.). Ebenfalls mit Verwunderung liest man die Arbeit von Pascale Bermon über den Einsatz von Liebesbegriffen in universitären Reflexionen über Cicero. Was hierbei eine Abbildung aus dem Hortus deliciarum der Herrad von Landsberg verloren haben mag, ist mir unergründlich, abgesehen davon, dass dort eine allegorische Darstellung der Philosophie auftaucht.

Dieser eher unerfreuliche und unergiebige Band, von dem ich mir so viel erwartet hatte, schließt mit einem Index der Personennamen und Titel, einem für die Liebesterminologie und einem für die konsultierten Handschriften. So faszinierend auf den ersten Blick auch der Buchtitel wirkt, handelt es sich doch letztlich wissenschaftlich gesehen um eine Enttäuschung. Die Beiträge wirken wie hausintern gestaltet, fast nur auf französische Forschung gestützt, wenn überhaupt, und extrem beschränkt auf die Behandlung des Themas durch mittelalterliche Philosophen und Theologen.

Albrecht Classen