Daniel Anderson / Pascale Derron: Les espaces du savoir dans l'antiquité. Introduction et huit exposés suivis de discussions (= Entretiens sur lantiquité classique; Tome LXIX), Genf: Fondation Hardt 2024, IX + 399 S., ISBN 978-2-600-00769-6, EUR 72,00
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Bildung, konkreter gefasst Lehren und Lernen, war für die griechische wie die römische Kultur durch die gesamte Antike hindurch von zentraler Bedeutung. Nachdem lange Zeit große Erzählungen wie Marrous Klassiker [1] das Feld dominiert haben, hat sich die Forschung intensiver mit der konkreten Praxis der Bildung befasst und dafür in großem Umfang früher vernachlässigte oder unerschlossene Quellen herangezogen, insbesondere ägyptische Papyri. [2] Bildung als wichtiges Gebiet der Kulturgeschichte der Antike wird dabei in einer langen diachronen Perspektive erforscht, auch wenn aufgrund der Quellenlage die Kaiserzeit den Schwerpunkt bildet. Während in der früheren Forschung Bildung vorwiegend anhand literarischer Zeugnisse untersucht wurde, hat mittlerweile eine merkliche Verbreiterung der Quellengattungen und der disziplinären Zugänge ein genaueres Verständnis für die soziale Realität und die Bedingungen antiken Lehrens und Lernens ermöglicht.
Zu diesem Bild des antiken Schulunterrichts will der von Daniel Anderson herausgegebene Band Les espaces du savoir dans l'antiquité beitragen. Aus einer Tagung an der Fondation Hardt in Genf im Jahre 2023 hervorgegangen, sind die acht Beiträge den Räumen des Wissens bzw. Lernens in der griechisch-römischen Antike gewidmet, wobei das Thema auf die formale Bildung, d. h. den Schulunterricht, beschränkt ist. Es geht also um den physischen Ort des Lehrens und Lernens, der bisher weniger Aufmerksamkeit als die Praktiken gefunden hat. Damit greift der Band einen Aspekt des antiken Schulbetriebs auf, der große Relevanz besitzt, finden doch Unterricht und Studium (selbst in der heutigen virtuellen Lehre) stets in materiellen Räumen statt und werden in ihrer Beschaffenheit durch diese physische Situierung geprägt. Die Aufsätze klammern allerdings den philosophischen Schulbetrieb und die Lehre im christlichen Kontext fast gänzlich aus.
Die Einleitung (1-24) der beiden ursprünglichen Veranstalter Daniel Anderson und Raffaella Cribiore (deren nachgelassenes Manuskript unverändert abgedruckt wurde) führt in das Thema ein und gibt einen Überblick über den Band. Insbesondere erörtert sie die schwierige Definition des Gegenstands und die Möglichkeit des Zugangs. Unterscheidet sich der Schulbetrieb der Antike doch erheblich von dem, den wir aus der Moderne kennen. Während der Begriff 'Schule' heutzutage auch eine Institution mit festen Regeln und einen eigenständigen, identifizierbaren Bautypus meint, ist die antike Schule weitgehend identisch mit dem Lehrer und seiner Schülergemeinschaft. Eine klar umrissene materielle Räumlichkeit hat der formale Unterricht weder in Griechenland noch in Rom ausgeprägt, jedenfalls nicht vor Ansätzen in der Spätantike. Stattdessen sehen wir eine große Variabilität von Orten, an denen unterrichtet werden konnte, vom Privathaus des Lehrers über öffentliche Säulenhallen bis zu Tempeln. Dementsprechend wenig eindeutig identifizierbare Spuren hat der Schulbetrieb in den materiellen Zeugnissen hinterlassen, und auch die literarischen Quellen bleiben meist vage, was die Räumlichkeiten angeht. Die Einleitung benennt damit das fundamentale Problem, vor dem die Untersuchung steht.
Eine fundierte und genaue Analyse des Zweitsprachenunterrichts im Lateinischen bietet Eleanor Dickey (69-100). Dieser in den Quellen zur antiken Bildung ansonsten wenig fassbare Bereich lässt sich aus papyrologischen Zeugnissen für das späthellenistische und kaiserzeitliche Ägypten beleuchten. Dickey beschreibt und differenziert klar die verschiedenen Texttypen wie Glossare, Konjugationstabellen und Literaturexzerpte, die sich eindeutig dem Sprachenlernen zuordnen lassen. Sie leistet eine scharfsinnige und genaue Analyse dieser Texte mit gutem Urteil, so dass sich ein akkurateres Bild des Lateinunterrichts in Ägypten zeichnen lässt als in früheren Untersuchungen. Hingegen bleibt die räumliche Situierung des Lehrens und Lernens unklar. Dickey zeigt vielmehr, dass das Sprachenlernen außerhalb der etablierten Schule und des Klassenzimmers stattfand, dass sich jedoch über die räumlichen Bedingungen keine positiven Aussagen treffen lassen.
Véronique Boudon-Millots Beitrag (183-215) widmet sich einem Zweig des antiken Unterrichts, der oft im Schatten von Rhetorik und Philosophie steht, der Medizin. Ihre Untersuchung der Räume des medizinischen Unterrichtens stützt sich ausschließlich auf zwei Textcorpora, die Schriften des Corpus Hippocraticum und die Werke Galens, so dass die Befunde nur für die Perioden der Entstehung dieser Texte aussagekräftig sind. Boudon-Millot kann anhand dieser Quellen einen grundlegenden Wandel in der Unterrichtspraxis aufzeigen, nämlich eine Entwicklung von der Ausbildung von Angehörigen innerhalb der Familie des Arztes zu einer gegen Bezahlung angebotenen Lehre für externe Studenten. Diese Entwicklung hatte Auswirkungen auf die räumliche Situierung, da sich der Unterricht vom Privathaus (und evtl. Visiten am Krankenbett) zu den 'Arztpraxen', gewissermaßen den Werkstätten (iatreion), die freilich nicht ausschließlich Schulräume waren, verlagerte und weiterhin zu öffentlichen Räumen wie Tempeln, an denen in der Kaiserzeit medizinische Debatten und Demonstrationen stattfanden.
Peter Scholz (259-303) untersucht verschiedene Kategorien von Orten des Lehrens und Lernens in griechischen Städten von der klassischen Zeit bis zum 2. Jahrhundert n. Chr., wobei der Schwerpunkt auf den hellenistischen Gymnasien liegt. In einer umfassenden Analyse literarischer, epigraphischer, archäologischer und papyrologischer Quellen zeigt er, dass Gymnasien Orte auch für intellektuelle Aktivitäten, für Lehre und Lernen sowie Vorträge waren. Es ist jedoch nicht möglich, sie als Orte zu identifizieren, an denen formale Bildung institutionell verankert war und über lange Zeit kontinuierlich vermittelt wurde. Es hing, wie Scholz plausibel macht, stark von der Initiative und materiellen Förderung einzelner Gymnasiarchen ab, ob in Gymnasienräumen Unterricht erteilt wurde. In der Kaiserzeit, so argumentiert Scholz aufgrund des epigraphischen Befundes, seien die Gymnasien als wichtigster Ort des Auftritts von Literaten und Gelehrten vom Typus des Odeions abgelöst worden. Inwieweit man bei solchen Darbietungen tatsächlich von Unterricht und Lernen sprechen kann, wird jedoch nicht näher erörtert.
Trotz der hohen Qualität einzelner Beiträge kann der Band als ganzer nicht überzeugen. Dies ist vorrangig dadurch bedingt, dass sich der Gegenstand, der Raum des Lehrens, nur schwer in den Quellen greifen lässt, aber auch dadurch, dass einige Beiträge (Anderson, Dickey, Del Corso, Konstan, Vössing) diesen ganz oder weitgehend außer Acht lassen. Die versammelten Aufsätze variieren in der Tiefe der Durchdringung ihres Themas und der wissenschaftlichen Qualität erheblich. Für die Sammlung wäre anstelle des gewählten Titels eigentlich die Überschrift "Praktiken des Lehrens und Lernens in der griechischen Antike" passender gewesen. Denn die Aufsätze beleuchten exemplarisch die konkrete Praxis, in der sich Unterrichten zwischen der klassischen Zeit und der Kaiserzeit entfalten konnte. Was die Räume des Wissens betrifft, bestätigt der Band hingegen nur den Befund, dass in der Antike kein eigenständiger Bautypus "Schule" oder "Klassenzimmer" existierte und sich deshalb auch aus den Quellen recht begrenzte Erkenntnisse über den physischen Ort von Lehren und Lernen gewinnen lassen.
Anmerkungen:
[1] Henri-Irénée Marrou: Histoire de l'éducation dans l'antiquité, Paris 1948 (mit zahlreichen Übersetzungen in andere Sprachen).
[2] Beispielsweise Raffaella Cribiore: Gymnastics of the Mind. Greek Education in Hellenistic and Roman Egypt, Princeton / Oxford 2001; W. Martin Bloomer (ed.): A Companion to Ancient Education, Chichester 2015; und jüngst einzelne Beiträge in Francesca Vidal / Gert Ueding (Hgg.): Handbuch Rhetorik und Pädagogik, Berlin / Boston 2024.
Jan Stenger