Rezension über:

Robert Bartlett: History in Flames. The Destruction and Survival of Medieval Manuscripts, Cambridge: Cambridge University Press 2024, IX + 242 S., ISBN 978-1-00-945715-6, GBP 20,00
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Rezension von:
Hans-Werner Goetz
Historisches Seminar, Universität Hamburg
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Hans-Werner Goetz: Rezension von: Robert Bartlett: History in Flames. The Destruction and Survival of Medieval Manuscripts, Cambridge: Cambridge University Press 2024, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 5 [15.05.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/05/39715.html


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Robert Bartlett: History in Flames

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Robert Bartlett, Emeritus der University of St. Andrews und dafür bekannt, dass seine Bücher (Gerald of Wales, 1982; Medieval Frontier Societies, 1989; The Making of Europe, 1993; Trial by Fire and Water, 1999; England under the Norman and Angevin Kings, 2002; The Hanged Man, 2004; Why Can the Dead Do Such Great Things? 2013; Blood Royal: Dynastic Politics in Medieval Europe, 2020; Political Rhetoric in Theory and Practice, 2024) sich immer neuen Themenbereichen zuwenden, behandelt in seinem jüngsten Buch ein ebenso wichtiges wie vernachlässigtes Thema: Während mittelalterliche Handschriften schon seit einiger Zeit geradezu in den Fokus der Mediävistik geraten sind, widmet Bartlett sich den Handschriftenverlusten großen Ausmaßes. Eine solche Gefahr ist umso mehr gegeben, je stärker die Handschriften an wenigen Orten zentriert werden.

Während die ersten beiden Kapitel über "Our Knowledge of the Past" zur Herstellung, Überlieferung und Sammlung von Handschriften sowie über "Libraries and Archives" einen eher allgemeinen Überblick über die Hintergründe geben, betont Kapitel 3 ("What Has Been Lost?"), wie offensichtliche Verluste aus den mittelalterlichen Bibliothekskatalogen erkannt werden können (aber auch die enorme Abschreibetätigkeit der Karolingerzeit). Manche Schätzungen veranschlagen die Verluste gar auf bis zu 93 % der Produktion. Vieles ist einfach der Suche nach 'Altpapier' zum Opfer gefallen. Nicht Weniges ist nur in einer oder zwei Handschriften erhalten.

Der Zufälligkeit der Überlieferung geht Kapitel 4 am Beispiel des altenglischen Epos 'Beowulf' nach, der Zentralquelle der 'Anglo-Saxon Studies', dessen einzige Handschrift 1563 in die Hände des Gelehrten Laurence Nowell und dann über den Bibliothekar Robert Cotton in das Britische Museum geriet. Bei einem Brand, dem 114 Handschriften zum Opfer fielen, darunter auch eine Version des Anglo-Saxon Chronicle, wurde die einzige Beowulfhandschrift 'nur' beschädigt; sonst wäre sie für immer unbekannt geblieben. Auch die Edition Thorkelins verbrannte 1807 bei einem englischen Angriff auf Kopenhagen, doch konnte eine Abschrift gerettet und 1815 veröffentlicht werden.

Die folgenden sechs Kapitel behandeln Fallbeispiele großer Zerstörungen, die hier nicht im Einzelnen besprochen werden können, aber jeweils verschiedene Ursachen haben: Der mutwilligen Zerstörung während einer Revolte (Kapitel 5: "Away with the Learning of the Clerks") fielen 1381 in London unter anderem die gesamten Steuerregister zum Opfer; im Deutsch-Französischen Krieg ging 1870 in Straßburg unter vielen Handschriften auch der 'Hortus deliciarum' Herrads von Landsberg verloren, der später nur durch Rekonstruktionen nach Kopien 'wiederhergestellt' werden konnte (Kapitel 6: "The Garden of Delight"); 1922 gingen in den "Four Courts" in Dublin nach der Unabhängigkeitserklärung Irlands bei einem britischen Angriff große Teile des "Public Record Office of Ireland", darunter alle plea rolls, verloren, weil das Gebäude zur Lagerung explosiver Stoffe genutzt worden war; nur einige Handschriften waren vorher abgeschrieben worden (Kapitel 7).

Die letzten drei Kapitel beschreiben Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs. 1943 verbrannten in Neapel durch Vandalismus weniger deutscher Soldaten große Teile des zum Schutz vor Bombenangriffen der Alliierten zuvor eigens in eine Villa vor der Stadt ausgelagerten Staatsarchivs, das viele Handschriften der staufischen und angevinischen Epoche beherbergte (Kapitel 8); nur durch die Beschreibung monastischer Pergamente durch Guiseppe del Giudice und die anschließende Sammlung von Kopien und Fotos durch Filangieri konnte manches zumindest inhaltlich gerettet werden. Einem Bombenangriff auf das Hauptstaatsarchiv Hannover im Oktober 1943 fiel neben vielem anderen - darunter im Übrigen auch die Hamburger Bestände, die man dorthin "in Sicherheit" gebracht hatte - auch die berühmte Ebstorfkarte, die größte Weltkarte des Mittelalters, zum Opfer, die man später in Originalgröße zu rekonstruieren suchte (Kapitel 9); von Hartmut Kuglers Edition der Karte von 2020 weiß Bartlett noch nichts. Im Mai 1944 schließlich fielen durch einen Irrtum Bomben der Alliierten, die eigentlich dem Flughafen galten, auf die Stadtbibliothek in Chartres, die eine große, bis ins 9. Jahrhundert zurückreichende Sammlung mittelalterlicher Handschriften besaß. 1940 waren die Bestände vor den Deutschen ausgelagert, nach der Eroberung durch die Deutschen aber zurückverlagert worden. Durch Katalog und Beschreibungen einzelner Bestände, Fotos und Sammlungen suchte man die Verluste später wenigstens teilweise auszugleichen (Kapitel 10). Inhalt und Geschichte berühmter Einzelstücke wie des 'Hortus deliciarum' oder der Ebstorfkarte werden in den entsprechenden Kapiteln genauer behandelt.

Dass unser Wissen immer lückenhaft ist, so Bartlett in seiner "Conclusion", müssen wir uns ebenso bewusst machen wie die Frage danach, was denn verlorengegangen ist: durch Zerfressen, Überschwemmungen, Brände, nicht selten in Aufständen oder Kriegen, vielfach aber auch einfach durch übliches Überschreiben. "We can make the past, we can also lose it" (188). Nicht minder wichtig (und jeweils mitbehandelt) ist daher die Arbeit an der Erhaltung der Manuskripte und an der Rekonstruktion verlorener Handschriften. Die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts entstehenden Archive verfolgten vorwiegend nationale Interessen. Da nicht selten Kriege die Verluste verantworten, lautet die Folgerung: "The state can preserve, but it can also destroy" (188).

Bartlett ist ein außergewöhnliches, interessantes und lesenswertes Buch über ein im Prinzip allen Mediävisten bekanntes, aber selten genauer untersuchtes Thema gelungen.

Hans-Werner Goetz