Rezension über:

Jacob Birken: Videospiele. Illusionsindustrien und Retro-Manufakturen (= Digitale Bildkulturen), Berlin: Wagenbach 2022, 77 S., 23 s/w-Abb., ISBN 978-3-8031-3718-0, EUR 10,00
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Rezension von:
Marcus Klöppel
Hochschule Macromedia, Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Kerstin Schankweiler
Empfohlene Zitierweise:
Marcus Klöppel: Rezension von: Jacob Birken: Videospiele. Illusionsindustrien und Retro-Manufakturen, Berlin: Wagenbach 2022, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 12 [15.12.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/12/36909.html


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Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.

Jacob Birken: Videospiele

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Die kulturhistorische Einordnung der "wichtigsten neuen Formen und Verwendungsweisen von Bildern" ist das Ziel der im Wagenbach-Verlag erscheinenden Reihe "Digitale Bildkulturen ". Mit "Videospiele" versucht Jacob Birken dies für das interaktive Medium, welches sich in den Siebzigerjahren zu einem der bedeutendsten Medien der Gegenwart entwickelte. Dieses zugleich noch neue und doch bereits stark ausdifferenzierte Medium auf 71 Seiten in seinen ästhetischen, medienwissenschaftlichen und gesellschaftlichen Dimensionen zu erfassen, ist ein ambitioniertes Unterfangen, welches Birken nur bedingt glückt.

Im ersten Kapitel wird die Entwicklung des Mediums innerhalb der letzten vier Dekaden mit Schlaglichtern nachgezeichnet und seine gesellschaftliche Bedeutung als Kultur- und Industriegut dargestellt. Zur Bekräftigung seiner Ausführungen bedient sich der Autor vor allem illustrativer Beispiele wie dem Auftritt von Ariane Grande im Multiplayer-Game "Fortnite" oder dem mit Hilfe von künstlicher Intelligenz generierten Bild "The Angel of Air" von Aran Komatsuzakis. In den folgenden Kapiteln postuliert Birken die These eines ästhetischen Abhängigkeitsverhältnisses, welches sich aus den technischen Gegebenheiten der jeweiligen Jahrzehnte und der Notwendigkeit des willentlichen Handelns der Spielenden ergibt. Exemplarisch dafür stehen die Fighting Games der "Golden Age of Arcade", in welchen das "[...] systemische Verständnis von Bewegung und Handlung ... in eine intermediale Spektakel-Kultur [...]" einfließen (32).

Besonderen Wert legt Birken darauf herauszuarbeiten, wie sich trotz der wenigen Dekaden seit Beginn des Mediums bereits eine Abspaltung zweier ästhetischer Formen entwickelte. Während der von stetiger technischer Weiterentwicklung getriebene Zweig der Erschaffung täuschend echter Realwelten hinterherjagt, versucht die zweite Ausprägung die ursprüngliche, auf Pixeln basierende und dem Medium inhärente Ästhetik zu erhalten und in moderne Kontexte zu transferieren.

Die Stärke dieses Buchs liegt fraglos in der kaleidoskopischen Bearbeitung des Themas. Vor allem in Kapitel 15, "Powerplay", führt der Autor gesellschaftliche Haltung und Erwartung, aktuelle Entwicklungen in unterschiedlichen linearen Medien sowie kulturelle Prägungen und den Druck kommerzieller Interessen auf die Entwicklung des sich zwischen Kulturgut und Industrieprodukt bewegenden Artefakts Videospiel zusammen. Diese Analysen zählen zu den Sternstunden des Buchs, in welchen Birken das komplexe Zusammenspiel, von welchem das Medium abhängig ist, präzise seziert und für den Leser leicht verständlich offenlegt - weitere von ihnen wären wünschenswert gewesen.

Kritik am Buch lässt sich beinahe ausschließlich auf struktureller Ebene finden.

So ist die Entscheidung des Verlags, das Buch ohne Inhaltsverzeichnis zu publizieren, ein Bärendienst. Zwar ist es mit Blick auf die geringe Seitenzahl des Buches eine nachvollziehbare Entscheidung, doch da Birken in diesem Werk ein überwältigend breites Themenspektrum bearbeitet, ist die Orientierung für Lesende ohne unterstützende Strukturen nur schwer möglich. Die zwar klangvollen, aber wenig deskriptiven Kapitelüberschriften verstärken diese Orientierungslosigkeit. Deutlich weniger kritisch und dennoch bedauerlich sind die nicht immer präzisen Beispiele und Belege der Fallbeispiele. Doch ist dies durch den präzise formulierten Kontext, in welchem sie stehen, verschmerzbar.

Auch die von Birken in den Diskurs eingeführten und verwendeten Begriffe sind nicht immer ausreichend scharf voneinander getrennt. Es wird unter anderem nicht klar, wo Birken die Grenze zwischen "handwerklichem" und "industriellem" Schöpfungsprozess zieht. Dies ist jedoch ein wichtiger Erkenntnisschritt und eine wesentliche begriffliche Unterscheidung; gründet Birken doch die Kapitel 12 und 13 auf dieser Differenz.

Trotz der genannten Schwächen ist "Videospiele" ein lesenswerter Beitrag zum Forschungsfeld ästhetischer Möglichkeiten und Abhängigkeiten in interaktiven Medien.

Dank des eingängigen Schreibstils des Autors, welcher mühelos auch über größere Themensprünge trägt, ist das Buch sowohl gut für einen ersten akademischen Kontakt mit dem Medium Videospiele geeignet, als auch für Lesende, die einen bildwissenschaftlichen und kulturhistorischen Zugang suchen. Doch mit dem Thema vertraute Personen werden nur in begrenzten Maßen Neues lernen; vielleicht aber Gedankenanstöße für weiterführende Recherchen finden.

Marcus Klöppel